Bündnis 90/ Die Grünen wollen Hartz IV ändern

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Grüne für Hartz 4 Änderung: Reinhard Bütikofer, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, hat heute zusammen mit der arbeitsmarktpolitischen Sprecherin der Fraktion, Brigitte Pothmer, die Ergebnisse der Arbeitsgruppe "Evaluierungs-AG Hartz IV" in Berlin vorgestellt.

Diese Arbeitsgruppe, an der Brigitte Pothmer, MdB, arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Marlis Bredehorst, Beigeordnete Stadt Köln, Dezernat für Soziales, Integration und Umwelt Sibyll Klotz, Stadträtin für Gesundheit und Soziales im Bezirk Tempelhof-Schöneberg, Berlin, Bärbl Mielich, MdL Baden-Württemberg, gesundheits-, behinderten- und altenpolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Marcus Bocklet, MdL Hessen, arbeitsmarktpolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Pico Jordan, Dezernent für soziale Infrastruktur, Region Hannover, beteiligt waren, empfiehlt eine Weiterentwicklung von Hartz IV zur sozialen Grundsicherung.

Die aktuellen Leistungselemente von Hartz IV müssten überarbeitet und ergänzt werden, sagte Bütikofer. Er betonte auch die Notwendigkeit von Mindestlöhnen, um die steigenden Ausgaben für Hartz-IV-Aufstocker, die von ihrem sozialversicherungspflichtigen Einkommen nicht leben können, zu begrenzen.

Die Verschärfung des Forderns und die Abstriche bein Fördern hätten zu einer Schieflage geführt, sagte Pothmer. Hartz IV sei in seinen jetzigen Ausführungen mit den bündnisgrünen Vorstellungen einer von Grundsicherung nicht vereinbar, heißt es in den Ergebnissen der Evaluierungs-AG. Der Anspruch, Arbeitslose tatsächlich zu unterstützen müsse eingelöst werden, erklärte Pothmer. Steigende Kosten, wie beispielsweise die Mehrwertsteuererhöhung oder eine Steigerung der Energiepreise, müssten dabei berücksichtigt werden.

Besonders Kinder und Jugendliche bräuchten eine bessere Absicherung. "Kinder dürfen nicht von Angeboten ausgegrenzt werden, weil ihre Eltern arbeitslos sind", sagte die arbeitsmarktpolitische Sprecherin und sprach sich für die fallweise Vergabe von Sachleistungen aus, die etwa die Kosten für Lernmittel, Schulmahlzeiten sowie die Inanspruchnahme von Sportangeboten, Musikschulen und Bibliotheken decken.

Zudem kritisierte sie die aktuelle Vergabepraktik von Arbeitsangeboten an Arbeitssuchende. Hier handle es sich nicht um "individuelle Angebote", sondern um "Zwang und Schikane", sagte Pothmer und forderte eine individuelle und passgenaue Betreuung.
Brigitte Pothmer betonte vor allem auch, dass in den Argen die Dezentralisierung der Arbeitsmarktpolitik ein entscheidendes Gewicht bekommen müsse.


Dokumentation der Ergebnisse der "Evaluierungs-AG Hartz IV":

1. Von Hartz IV zur sozialen Grundsicherung
Bündnis 90/Die Grünen setzen sich für die Weiterentwicklung von Hartz IV zur sozialen Grundsicherung ein. Die aktuellen Leistungselemente müssen überarbeitet und ergänzt werden. Die Trägerschaft im SGB II muss konsequent dezentralisiert werden, damit die Betreuung der LeistungsempfängerInnen autonomer und effizienter gestaltet werden kann.

Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe war ein erster Schritt in Richtung einer sozialen Grundsicherung. Die Grünen haben diese Zusammenlegung unterstützt und mitgestaltet. Die Akzeptanz von Hartz IV war jedoch von Anfang an brüchig, die Beschlüsse der großen Koalition haben noch mehr Ablehnung provoziert. Die Verschärfung des Forderns und die Abstriche beim Fördern haben zu einer Schieflage geführt. Hartz IV in seiner jetzigen Ausführung ist mit unseren Vorstellungen von einer Grundsicherung nicht vereinbar. Folgende Korrekturen sind notwendig:

Leistungshöhe an Kostensteigerungen anpassen und Kinder und Jugendliche besser absichern
Eine soziale Grundsicherung soll ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Die zu zahlende Leistung soll der Höhe des soziokulturellen Existenzminimums entsprechen. Entgegen der jetzigen Praxis wollen wir, dass in Zukunft Kostensteigerungen (z.B. bei den Gesundheitskosten, Energiepreisen, Mehrwertsteuererhöhungen etc.) durch die Anhebung der Regelleistung ausgeglichen
werden.
Um die Ausgrenzung und Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen aus hilfebedürftigen Familien zu verhindern, müssen für sie neben der Zahlung der Regelleistung auch zusätzliche Leistungen gewährt werden können. Dazu sind fallweise Sachleistungen erforderlich, die der körperlichen, geistigen und sozialen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen dienen. Dazu zählen zum Beispiel die Übernahme der Kosten für Lernmittel, Schulmahlzeiten und die Inanspruchnahme von Sportangeboten, Musikschulen und Bibliotheken.

2. Eigenständige Absicherung von Frauen verbessern und Altersvorsorge schützen
Wir wollen die Rolle der Frauen als „abgeleitete Wesen“ beenden, und sie als eigenständige Bürgerinnen mit eigenständigen Ansprüchen auch eigenständig sozial absichern. Die Regelleistung muss deshalb – zunächst soweit wie möglich, perspektivisch jedoch komplett – unabhängig vom Partnereinkommen gewährt werden. Bei der Anrechnung des Partnereinkommens soll das Ziel der Individualisierung der Leistungen im Steuerrecht, der Rentenversicherung und der Krankenversicherung verfolgt werden. Statt mit dem Ehegattensplitting milliardenschwere Steuernachlässe für die Ehe zu gewähren, muss dafür gesorgt werden, dass Frauen individuell abgesichert und Kinder gefördert werden.

Wir wollen das Altersvorsorgevermögen umfassender schützen, um eine verlässliche Lebensplanung zu ermöglichen. Mit dem grünen Konzept des Altersvorsorgekontos haben wir bereits ein Modell vorgelegt, das nicht mehr zwischen unterschiedlichen Vorsorgearten unterscheidet und Vorsorgevermögen völlig von der Anrechnung freistellt.

Arbeits- und Bildungsbereitschaft motivieren
Die Zahlung einer sozialen Grundsicherung soll an eine Arbeits- und Bildungsbereitschaft anknüpfen; besser noch an eine Bereitschaft, „der Gesellschaft etwas zurückzugeben“. Diese Bereitschaft ist nicht identisch mit der derzeitigen Praxis der Prüfung der Arbeitsbereitschaft durch die Argen. Menschen etwas abzufordern und ihre Mitarbeit einzufordern, ist nicht gleichzusetzen
mit Arbeitszwang, dem Schikanieren von Arbeitslosen und der Pflicht zu sinnloser Beschäftigung. Die Bereitschaft, der Gesellschaft etwas (zurück)zugeben kann unterschiedlich aussehen. Sie reicht von der „normalen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung“ im gemeinwirtschaftlichen Sektor bis hin zum bürgerschaftlichen Engagement. Es muss Wahlmöglichkeiten geben und die Selbstsuche und -organisation muss vor „Zuweisung“ gehen. Auch die Gruppe der „neuen Selbständigen“ (z.B. aus dem Kultur- und Medienbereich) soll unkompliziert den Zugang zur sozialen Grundsicherung erlangen können.

Für uns hat die individuelle, passgenaue Betreuung von Mensch zu Mensch Vorrang vor der schematischen Fallbearbeitung mittels EDV-Masken. Für die soziale Grundsicherung muss es für jeden Einzelfall ein qualifiziertes Fallmanagement geben. Dazu gehört, dass die Verzahnung von Beschäftigungsförderung und sozial flankierenden Maßnahmen zur Regel wird. Der Leitgedanke dafür heißt: Individuelle Menschen brauchen individuelle Hilfen für ihre individuellen Problemlagen.

Beschäftigungsförderung zum Schwerpunkt machen
In Zukunft muss der Stellenwert von Eingliederungs- und Qualifizierungsbemühungen erhöht werden und das Fördern endlich in den Mittelpunkt der Arbeit der Argen und Jobcenter gerückt werden. Das SGB II hat eine bisher unbekannte Vielfalt und Flexibilität für den Einsatz von Maßnahmen eröffnet. Diese Vielfalt muss noch stärker zur Anwendung kommen. Die Reglementierung
und Behinderung durch bürokratische Vorschriften muss unterbunden werden. Die Kreativität und Gestaltungsfreiheit der lokalen Akteure bei der Anwendung der beschäftigungspolitischen Instrumente muss unterstützt und erweitert werden. Hierzu ist ein Paradigmenwechsel bei der Bundesagentur für Arbeit erforderlich.

Das Weiterbildungsangebot für die Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit ist qualitativ und quantitativ auszuweiten. Besonderes Augenmerk muss auf die Bekämpfung der Bildungsarmut von Jugendlichen gerichtet werden. Das Nachholen von Schulabschlüssen sowie verbesserte Chancen auf Ausbildung haben Priorität. Der Übergang von der Schule in den Beruf und die dafür notwendige Zusammenarbeit aller Akteure müssen verbessert werden.

Sozialen Arbeitsmarkt ermöglichen und gesellschaftliche Arbeit aufwerten
Wir brauchen mehr Angebote für Arbeitssuchende, die unter den derzeitigen Rahmenbedingungen auf unabsehbare Zeit nicht in den ersten Arbeitsmarkt integrierbar sind. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass für diese Gruppe von etwa 400 000 Langzeitarbeitslosen öffentlich finanzierte sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse geschaffen werden. Dabei geht es um ein verlässliches Segment sozialer Beschäftigung, dass sich z.B. im Rahmen von Assistenzen in der Pflege, in Kindergärten oder auch bei Hausmeistertätigkeiten realisieren lässt.

Konsequente Dezentralisierung im SGB II
Wir wollen konsequent den Weg der Dezentralisierung gehen und die Arbeit vor Ort autonomer und effizienter gestalten. Die Betreuung der LeistungsempfängerInnen muss sich zügig verbessern. Die Arbeitsgemeinschaften sind für diese Aufgabe grundsätzlich die richtige Lösung, da die Zusammenführung von kommunalen Kompetenzen mit denen der Arbeitsagenturen sachlich richtig und im Interesse der Hilfebedürftigen ist.

Wir wollen die Handlungsmöglichkeiten der Argen vor Ort stärken und ihren örtlichen Bezug und ihre regionale Verantwortung verbessern. Die örtlichen Argen müssen in die Lage versetzt werden, die Verantwortung für die eigene Arbeit umfassend wahrzunehmen. Dazu gehört die Hoheit über ihr Personal genauso wie die vollständige Kontrolle über ihr Eingliederungsbudget. Zu diesem Zweck schlagen wir eine Neuordnung der Rahmenbedingungen für die Argen vor, die die Interessen des Bundes wahrt und gleichzeitig die Handlungsmöglichkeiten vor Ort stärkt.

Die „Evaluierungs-AG Hartz IV“ traf sich seit August 2006, um die Weiterentwicklung von Hartz IV zu einer sozialen Grundsicherung zu diskutieren und hierfür konkrete Vorschläge vorzulegen. (15.02.07)

Ist das Bürgergeld besser als Hartz IV?

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