Viele Witwen und Witwer gehen davon aus, dass weniger Erwerbsarbeit automatisch zu mehr Witwenrente führt und damit das Gesamteinkommen steigt.
Der Gedanke klingt zunächst plausibel: Wer weniger verdient, hat weniger anzurechnendes Einkommen, die Rente wird weniger gekürzt – also müsste am Ende mehr übrig bleiben.
Genau hier liegt jedoch eine gefährliche Fehleinschätzung. Der Sozialrechtsexperte Dr. Utz Anhalt zeigt, dass der Zuwachs bei der Hinterbliebenenrente den Wegfall von Nettoarbeitsentgelt häufig nicht ausgleicht. Das Ergebnis ist dann kein Plus, sondern ein Minus im Geldbeutel.
Die rechtliche Grundlage der Anrechnung
Die gesetzliche Rentenversicherung rechnet eigenes Einkommen auf die Hinterbliebenenrente an. Maßgeblich ist § 97 SGB VI in Verbindung mit § 18a ff. SGB IV. Vereinfacht gilt: Ein festgelegter Freibetrag schützt einen Teil des Nettoeinkommens.
Alles, was darüber hinausgeht, mindert die Witwen- oder Witwerrente zu 40 Prozent. Der Freibetrag wird regelmäßig angepasst. Im vom Video zugrunde gelegten Rechenbeispiel beträgt er 1.076,86 € (ab 1. Juli 2025). Erst Einkommen oberhalb dieses Betrags löst also die 40-Prozent-Anrechnung aus.
Wie die Anrechnung in der Praxis wirkt
Entscheidend ist das Zusammenspiel aus Nettoeinkommen und gekürzter Rente. Reduziert eine hinterbliebene Person ihre Arbeitszeit, verringert sich zunächst das Nettoeinkommen. Gleichzeitig sinkt die Kürzung der Witwenrente, sodass die ausgezahlte Rente steigt.
Dieser Rentenanstieg ist jedoch nur ein Teil des Bildes. Weil lediglich 40 Prozent des über dem Freibetrag liegenden Einkommens angerechnet werden, kommt von jedem „weggekürzten“ Euro Arbeitseinkommen nur ein Teil als höhere Rente zurück. In vielen Fällen ist der Verlust beim Nettoeinkommen größer als der Zuwachs bei der Rente.
Das Rechenbeispiel im Detail
Im Beispiel wird eine monatliche Witwenrente von 1.000 € vor Anrechnung unterstellt. Die betroffene Person verdient zunächst 1.500 € netto. Von diesen 1.500 € bleiben 1.076,86 € durch den Freibetrag anrechnungsfrei. Der übersteigende Teil beträgt 423,14 €.
Davon werden 40 Prozent, also 169,26 €, auf die Rente angerechnet. Die ausgezahlte Witwenrente sinkt damit auf 830,74 €. Zusammen mit dem Nettoeinkommen ergibt sich ein Gesamteinkommen von 2.330,74 €.
Im zweiten Schritt reduziert die Person ihre Erwerbstätigkeit und erzielt nur noch 1.200 € netto. Das anrechenbare Einkommen schrumpft dadurch auf 123,14 €. 40 Prozent hieraus sind 49,26 €.
Die Witwenrente erhöht sich folglich auf 950,74 €. Das Gesamteinkommen liegt nun bei 2.150,74 €.
Der Vergleich der beiden Situationen fällt eindeutig aus: Trotz geringerer Anrechnung und höherer ausgezahlter Rente ist das Gesamteinkommen nach der Arbeitszeitreduzierung um exakt 180,00 € pro Monat niedriger. Der Einkommensverlust aus Arbeit wird also nicht vollständig durch die höhere Rente kompensiert.
Warum der Effekt so stark ist
Der Mechanismus erklärt sich aus der 40-Prozent-Quote. Wer sein Nettoeinkommen senkt, reduziert zwar die Rentenkürzung – zurück in die Haushaltskasse fließen aber eben nur 40 Prozent des weggefallenen anrechenbaren Anteils.
Die übrigen 60 Prozent bleiben als Einkommensverlust bestehen. Das führt dazu, dass die Summe aus Arbeitseinkommen und Hinterbliebenenrente in der Regel sinkt, wenn die Erwerbstätigkeit reduziert wird. Erst wenn sehr besondere Konstellationen vorliegen, kann das Gesamteinkommen stabil bleiben oder steigen. Im Regelfall ist das Gegenteil der Fall.
Was vor Entscheidungen zu bedenken ist
Vor einer Reduzierung der Arbeitszeit sollte stets das Gesamtbild im Fokus stehen. Relevant sind nicht allein die absolute Höhe der Witwenrente, sondern die Summe aus Nettoeinkommen und ausgezahlter Rente.
Es empfiehlt sich, mit Nettozahlen zu rechnen, denn sie bilden die tatsächliche Liquidität ab. Auch steuerliche Effekte, Sozialabgaben und mögliche Veränderungen bei weiteren Einkommensbestandteilen können die Bilanz beeinflussen.
Wer bereits eine eigene Altersrente bezieht, sollte zudem prüfen, ob Hinzuverdienstregelungen an anderer Stelle wirken. In jedem Fall gilt: Eine saubere, individualisierte Berechnung ist besser als ein Bauchgefühl.
Lebenszeit ist mehr als Geld – aber rechnen hilft
Natürlich kann eine Arbeitszeitreduzierung aus persönlichen Gründen sinnvoll sein. Wer mehr Zeit für Familie, Gesundheit oder Ehrenamt gewinnen möchte, verfolgt Ziele, die sich nicht in Euro messen lassen.
Diese wertvollen Motive machen eine verringerte Erwerbstätigkeit keineswegs falsch. Umso wichtiger ist es, die finanziellen Folgen klar zu kennen, damit die Entscheidung bewusst getroffen wird und keine unerwartete Lücke im Monatsbudget entsteht.
Fazit: Die Anrechnungsfalle vermeiden
Der Sozialrechtsexperte Dr. Utz Anhalt macht deutlich, dass der weit verbreitete Reflex „weniger arbeiten = mehr Rente = mehr Geld“ in der Hinterbliebenenversorgung nicht trägt.
Die 40-Prozent-Anrechnung oberhalb des Freibetrags führt dazu, dass die Rentenerhöhung in vielen Fällen den Verlust an Nettoeinkommen nicht ausgleicht. Wer eine Reduzierung der Arbeitszeit erwägt, sollte vorher genau rechnen und – wenn nötig – fachkundigen Rat einholen.
So wird aus einer gefühlten Verbesserung keine teure Überraschung, sondern eine Entscheidung mit klarem Blick auf die finanziellen Folgen.




