Wenn Betroffene monatelang auf einen Bürgergeld-Bescheid warten, bleibt oft nur die Untätigkeitsklage. Manche Jobcenter versuchen dann, das Verfahren elegant zu beenden: Sie schicken dem Sozialgericht eine Bescheidkopie und behaupten, damit sei „alles erledigt“.
Das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg hat diesen Praxisversuch nun klar zurückgewiesen (Urteil vom 03.07.2025, L 35 AS 779/23): Die bloße Weiterleitung einer Bescheidkopie durch das Gericht ist keine wirksame Bekanntgabe.
Ohne ordnungsgemäße Zustellung an die betroffene Person bleibt die Untätigkeitsklage zulässig – und die Behörde muss entscheiden.
Worum ging es?
Eine 1958 geborene Frau hatte die Weiterbewilligung von Leistungen nach dem SGB II beantragt. Es passierte: nichts. Erst viele Monate später legte das Jobcenter einen Ablehnungsbescheid aus Januar 2023 vor – aber nicht der Antragstellerin, sondern dem Sozialgericht.
Das SG erklärte die Untätigkeitsklage daraufhin für unzulässig: Es gebe ja nun einen Bescheid. Das LSG hob diese Entscheidung auf. Solange der Bescheid nicht wirksam bekanntgegeben ist, liegt keine Erledigung vor. Punkt.
Rechtlicher Kern: Bekanntgabe ist mehr als „Kenntnis“
Wichtig sind zwei Grundsätze des Verwaltungsrechts:
§ 37 SGB X: Ein Verwaltungsakt wird nur wirksam, wenn er dem Adressaten bekanntgegeben wird.
§ 39 SGB X: Wirksamkeit und Fristen knüpfen an diese Bekanntgabe an – nicht an bloße Kenntnis „irgendwie, irgendwo“.
Das LSG betont: Kenntnis durch Gerichtsweiterleitung genügt nicht. Erst wenn die Behörde den Bescheid willentlich an die betroffene Person übermittelt – etwa per Post – beginnt die Wirksamkeit. Eine Ausnahme: Das Gericht kann ausnahmsweise als Bote der Behörde tätig werden, wenn die Behörde das ausdrücklich so bestimmt.
Das war hier erst im Termin der Fall; davor gab es keine wirksame Bekanntgabe. Die Untätigkeitsklage blieb also zulässig, und das Jobcenter wurde per Anerkenntnisurteil zur Bescheidung verpflichtet.
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Bescheid prüfenWarum das Urteil wichtig ist
Viele Leserinnen und Leser kennen das Problem: Das Jobcenter vertröstet, hakt nach Unterlagen, die Akte wandert – und irgendwann taucht irgendwo ein Bescheid auf, den man selbst nie gesehen hat. Dann heißt es plötzlich: „Erledigt. Fristen laufen.“ Das LSG zieht hier eine klare Linie: Ohne ordnungsgemäße Bekanntgabe keine Fristen, keine Erledigung, kein Hinausdrängen aus dem Rechtsschutz.
Das stärkt den effektiven Rechtsschutz bei Bürgergeld-Verfahren – gerade in Konstellationen, in denen es auf Tage und Wochen ankommt (z. B. bei Krankenversicherungslücken oder Mietrückständen). Wer eine Untätigkeitsklage erhoben hat, kann sich künftig mit Verweis auf diese Entscheidung gelassener gegen das „Gerichtskopie-Argument“ wehren.
Was Betroffene jetzt beachten sollten
Wer auf einen Bescheid wartet, sollte die Zugangsfrage im Blick behalten: Wann und wie ist ein Bescheid tatsächlich zugegangen? Erst ab Zugang laufen Widerspruchs- und Klagefristen. Der Unterschied zwischen „Kenntnis“ und „Bekanntgabe“ ist dabei entscheidend. Die folgende Übersicht hilft bei der Einordnung:
Situation | Rechtsfolge/Fristbeginn |
Bescheid wird per Post an die betroffene Person zugestellt | Bekanntgabe erfolgt → Fristen laufen ab Zugang (regelmäßig Datum des Posteingangs) |
Nur Kopie des Bescheids beim Sozialgericht, keine Zustellung an Betroffene | Keine Bekanntgabe → keine Fristen, keine Erledigung der Untätigkeitsklage |
Gericht leitet Bescheid ausdrücklich als Bote der Behörde weiter | Bekanntgabe mit Weiterleitung → Fristen laufen ab Zustellung durch das Gericht |
Mündliche Information „Es gibt einen Bescheid“ ohne Dokument | Keine wirksame Bekanntgabe |
Praktisch heißt das: Hebt Briefe auf, notiert das Zugangsdatum (z. B. handschriftlich auf dem Umschlag), und reagiert erst, wenn euch ein Bescheid wirklich zugegangen ist. Erhaltet ihr nur über das Gericht eine Kopie, könnt ihr euch auf fehlende Bekanntgabe berufen und die Untätigkeitsklage fortführen.
Untätigkeitsklage – kurz erklärt
Die Untätigkeitsklage nach § 88 SGG ist das Mittel der Wahl, wenn ein Jobcenter einen Antrag „ohne zureichenden Grund“ in angemessener Frist nicht bescheidet (regulär nach sechs Monaten).
Sie zwingt die Behörde nicht zu einer bestimmten Entscheidung (Bewilligung oder Ablehnung), sondern überhaupt zu einer Entscheidung. Erst danach beginnt das normale Rechtsbehelfsverfahren mit Widerspruch und ggf. Klage zur inhaltlichen Überprüfung.
Einordnung und Signalwirkung
Das Urteil stammt von einem Landessozialgericht – es wirkt nicht automatisch bundesweit, ist aber überzeugend und gut auf andere Fälle übertragbar, weil es Grundregeln der Bekanntgabe im SGB X präzisiert.
Jobcenter sollten ihre Praxis anpassen: Bescheide müssen an die Betroffenen. Für Leistungsberechtigte schafft die Entscheidung Rechtssicherheit in einer heiklen Phase zwischen Warten, Existenzsorge und formalem Fristenlauf.