Sozialhilfe: Mitwirkungspflicht gilt nicht bei psychischer Erkrankung

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Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (L 9 SO 7/23 B ER) verurteilte die zustรคndige Behรถrde dazu, einem Menschen mit voller Erwerbsminderung und diagnostizierter Persรถnlichkeitsstรถrung ergรคnzende Grundsicherung nach dem SGB XII (Sozialhilfe) zu zahlen.

Psychische Erkrankung und Erwerbsminderung

Der Betroffene ist psychisch erkrankt an einer Persรถnlichkeitsstรถrung mit schizoiden, zwanghaften und paranoiden Anteilen. Er ist dauerhaft voll erwerbsgemindert und bezieht eine volle diesbezรผgliche Rente.

Seit 2016 bekam er vom Sozialamt ergรคnzende Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB XII. Diese wurden zuletzt fรผr den August 2022 bewilligt. Dabei wurde der Regelsatz ebenso berรผcksichtigt wie die tatsรคchlichen Kosten fรผr die Unterkunft (485 Euro). AuรŸerdem wurde die Rente angerechnet. Der Betroffene lebt bei seinen Eltern.

รœberweisung auf unbekanntes Konto

Am 8.8.2022 beantragte er eine Weiterbewilligung der Grundsicherung. Er begrรผndete dies unter anderem mit einem Mehrbedarf fรผr koscheres Essen und Wallfahrten.

Die Kontoauszรผge der Betroffenen belegten, dass er neben der Miete einen Betrag von 400 Euro auf ein anderes Konto รผberwies. Unbekannt bleibt der Inhaber dieses Konto und die Kontonummer.

Das Sozialamt forderte den Betroffenen am 10.8.2022 per E-Mail auf, Kontoauszรผge eines genannten โ€žH.โ€œ vorzulegen und wiederholte dies am 18.8.2022. Am 30.8.2022 folgte eine Anhรถrung des Betroffenen, in der er รผber das beabsichtigte Versagen von Leistungen informiert wurde.

Am 14.9.2022 wurden die Leistungen dann per Bescheid versagt. Die Begrรผndung lautete, er sei seiner Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen, obwohl er auf die Folgen aufmerksam gemacht worden sei. Am 16.9.2022 legte der Betroffene Widerspruch ein.

Religiรถse Ernรคhrung und Verschwรถrungsmythen

Der Fall kam vor das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen. Dort begrรผndete er sein Begehren auf Weiterzahlung der Grundsicherung inklusive eines โ€žreligiรถsen Mehrbedarfsโ€œ.

Als Jude wolle er die Mรถglichkeit haben, sich koscher zu ernรคhren. Es sei abwegig, zu denken, er kรถnne Geld von anderen erhalten. Warum, so der Betroffene, gehe man nicht davon aus, dass er in Karlsruhe zum Richter ernannt werden kรถnne, es lรคgen doch Nachweise seiner juristischen Ausbildung vor.

Man solle โ€žvon Herrn X Kontoauszรผge fordernโ€œ. Der Betroffene sagte weiter โ€žwenn K. (eine Mitarbeiterin der zustรคndigen Behรถrde) mit X. einen Ring zur Kinderprostitution betreibt, dann muss ich dies wissen”.

Er fรผhrte dann aus: โ€žWenn K. und X. Kinder vergewaltigen und fรผr Geld an andere geben, dann muss ich dies wissen.โ€œ โ€žWenn also mein Geld รผber das gleiche Konto lรคuft wie der Missbrauch von Kindern, muss ich dies wissen.โ€œ Es sei, so der Betroffenen. seine Aufgabe, โ€ždiese Tatenโ€œ aufzudecken.

โ€žWirr mit Kernaussageโ€œ

Das Landessozialgericht bewertete die Beschwerde zwar als schwer lesbar, inhaltlich teilweise wirr und mit gravierend ehrwรผrdigen und potenziell strafwรผrdigen Verdรคchtigungen versehen.

Deutlich werde dennoch das Rechtsschutzbegehren des Betroffenen mit der Kernaussage, dass er die โ€žWeiterzahlung der Grundsicherung ab September 2022 einschlieรŸlich eines Mehrbedarfs wegen religiรถs bedingter koscherer Ernรคhrungโ€œ fordere. Er sei nicht prozessunfรคhig, das er das prozessuale Begehren nachvollziehbar darlegen kรถnne.

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Die Beschwerde sei begrรผndet, was den Anspruch auf Weiterzahlung der Grundsicherung in Hรถhe des Regelsatzes ab September 2022 betreffe. Hinsichtlich der Kosten fรผr die Unterkunft und des Mehrbedarfs sei sie unbegrรผndet.

Hilfsbedรผrftigkeit nicht aufzuklรคren

Die Hilfsbedรผrftigkeit (ยง 19 Abs. 2 SGB XII) sei im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht abschlieรŸend aufzuklรคren. Zweifel bestรผnden, da der Betroffene keine Angaben zu dem Konto mache, auf das er monatlich 400 Euro รผberwiesen habe.

Denkbar sei, dass es sich um ein eigenes Konto handle, auf dem sich Vermรถgen befรคnde, das der Hilfsbedรผrftigkeit entgegen stehe. Dies sei aber nicht naheliegend, denn es lรคgen keine Indizien dafรผr vor, dass der Betroffene neben seiner Rente weitere Einkรผnfte erhalte.

Vermutlich diene die รœberweisung dazu, wie der Betroffene sage, seine Ausgaben zu verschleiern. Dies kรถnne er allerdings auch durch das Abheben von Bargeld erreichen, ohne dass deshalb seine Hilfsbedรผrftigkeit in Frage stรผnde.

Folgenabwรคgung wegen psychischer Erkrankung

Der Sachverhalt sei deswegen unaufklรคrbar, weil der Betroffene seine Mitwirkungspflicht verletze. Wรผrde er den Inhaber des Kontos nennen, auf das er das Geld รผberwies, lieรŸe sich der Sachverhalt weiter aufklรคren.

Zwar kรคme eine Folgenabwรคgung nicht in Betracht, wenn die Mitwirkungspflicht verletzt werde. In diesem Fall sei es aber wahrscheinlich, dass der Betroffene sein Mitwirkungspflicht nicht erfรผllen kรถnne โ€“ aufgrund seiner psychischen Erkrankung. Also kรคme eine Folgenabwรคgung in Frage.

Der Folgenabwรคgung zufolge sei der Versagungsbescheid rechtswidrig. Die Behรถrde, die die Leistungen versagte, hรคtte die psychische Erkrankung berรผcksichtigen mรผssen.

Bereits die Diagnose โ€žPersรถnlichkeitsstรถrung mit schizoiden, zwanghaften und paranoiden Anteilenโ€œ reiche aus, daran zu zweifeln, ob der Betroffene in der Lage sei, im eigenen Interesse begrรผndeten Mitwirkungsaufforderungen Folge zu leisten. Die Ausfรผhrungen des Betroffenen im Gerichtsverfahren wรผrden diese Zweifel verstรคrken.

Den geforderten Anspruch nach Mehrbedarf hรคtte der Betroffene nicht deutlich gemacht, und Unterkunftskosten wรคren nicht eilbedรผrftig, da er bei seinen Eltern wohne. Der ausstehende Regelsatz mรผsse gezahlt werden.