Jobcenter dรผrfen contergangeschรคdigte behinderte Menschen zur Deckung ihres Existenzminimums nicht auf ihre monatliche Conterganrente verweisen. Auch kann aus Hรคrtefallgrรผnden der Verkauf einer weitgehend aus der Conterganrente finanzierten, 119 Quadratmeter groรen Eigentumswohnung nicht verlangt werden, entschied das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen in einem am Freitag, 12. Februar 2021, in Essen verรถffentlichten Urteil (Az.: L 6 AS 1651/17).
Im Streitfall ging es um eine 1962 geborene Frau, die wegen einer Conterganschรคdigung eine Fehlbildung beider Arme erlitten hatte und seit ihrer Geburt an einer degenerativen Wirbelsรคulenerkrankung mit muskulรคren Problemen leidet. Bei ihr ist ein Grad der Behinderung von 100 festgestellt. Sie ist regelmรครig auf Assistenzkrรคfte fรผr ihre Pflege und die Hausarbeit angewiesen, die teilweise bei ihr auch รผbernachten mรผssen.
Jobcenter verweigerte Hartz IV Leistungen
2005 gab sie wegen Unstimmigkeiten ihre Arbeitsstelle beim Deutschen Entwicklungsdienst auf. Von da an bezog die Frau Arbeitslosengeld II.
Das Jobcenter stellte 2012 fest, dass die behinderte Frau gar nicht hilfebedรผrftig sei und ihren Lebensunterhalt selbst decken kรถnne. So habe sie bis August 2013 laufende Rentenleistungen nach dem Gesetz รผber die Conterganstiftung fรผr behinderte Menschen in Hรถhe von 1.127 Euro monatlich erhalten. Sie habe zudem eine einmalige Rentenzahlung in Hรถhe von knapp 37.000 Euro erhalten. Seit September 2013 belaufe sich ihre Conterganrente auf monatlich 5.760 Euro.
Auch ihre Eigentumswohnung sei mit 119 Quadratmetern unangemessen groร, so dass ein Verkauf zumutbar sei. Fรผr eine alleinstehende Person gelte 80 Quadratmeter Wohneigentum noch als angemessen. Bei einer Behinderung kรถnne zehn Prozent mehr Platz zugrundegelegt werden. Da hier die contergangeschรคdigte Frau eine weit grรถรere Eigentumswohnung habe, kรถnne von ihr der Verkauf verlangt werden.
Gerichtlich wollte die behinderte Frau feststellen lassen, dass sie dem Grunde nach Anspruch auf Hartz-IV-Leistungen hat. Bei der Conterganrente handele es sich um eine Entschรคdigungszahlung, die nicht als Einkommen auf das Arbeitslosengeld II angerechnet werden dรผrfe. Ihre Eigentumswohnung habe sie weitgehend mithilfe der Conterganrente finanziert, so dass diese vor einer Verรคuรerung geschรผtzt sein mรผsse.
LSG Essen sieht Hรคrtefall bei Verkauf von 119-Quadratmeter Wohnung
Das LSG urteilte am 3. Dezember 2020, dass der behinderten Frau dem Grunde nach Arbeitslosengeld II als Zuschuss zusteht. Die Conterganrente sei eine gesetzliche Entschรคdigungsleistung, die nicht als Einkommen auf Hartz-IV-Leistungen angerechnet werden darf. Die Rentenzahlung solle nach dem Willen des Gesetzgebers โvorrangig entgangene Lebensmรถglichkeiten” fรผr Contergangeschรคdigte ausgleichen. Werde das Geld als Einkommen auf Hartz-IV-Leistungen angerechnet, wรผrde der Gesetzeszweck vereitelt.
Auch die Eigentumswohnung mรผsse nicht zur Sicherung des Existenzminimums verkauft werden, so das LSG. Dies wรผrde eine besondere Hรคrte bedeuten. Zwar gelten รผblicherweise eine bis zu 80 Quadratmeter groรe Wohnung und ein Zuschlag von zehn Prozent fรผr einen behinderungsbedingten Platzmehrbedarf als angemessen. Es handele sich hier aber nicht um feste Grรถรen. Hier habe die Klรคgerin darlegen kรถnnen, warum bei ihr 119 Quadratmeter erforderlich und damit angemessen seien.
So sei sie nur 1,50 Meter groร und habe eine Fehlbildung beider Arme. Damit kรถnne sie keine hohen Schrรคnke und Regale nutzen und benรถtig mehr Stauraum in der Flรคche. Die Wohnung enthalte zudem ein Zimmer fรผr die Assistenzkrรคfte. Schlieรlich mรผsse berรผcksichtigt werden, dass die Wohnung รผberwiegend aus der Conterganrente finanziert und mit รถffentlichen Mitteln erheblich behinderungsgerecht umgebaut wurde. Mรผsse die Klรคgerin in eine andere Wohnung umziehen, wรผrden voraussichtlich erneut Umbaumaรnahmen erforderlich.
Wegen grundsรคtzlicher Bedeutung hat das LSG die Revision zum Bundessozialgericht (BSG) in Kassel zugelassen. fle/mwo