Sozialabbau – ein Thema mit Tradition
Gisbert Schlemmer zu den Hintergründen aktueller »Reformen«
Voltaire sagte schon vor über 200 Jahren: »Die Regierungskunst besteht darin, soviel Geld wie möglich einer Klasse von Bürgern zu nehmen und es einer anderen zu geben.« Der Satz ist heute so aktuell wie damals.
Es wird versucht, uns einzureden, der Sozialstaat sei ausgeufert, wir lebten über unsere Verhältnisse, die Leistungsbereitschaft der Menschen fehle. Der Spiegel schreibt: Deutschland leiste sich einen Sozialstaat, der zu üppig sei und dadurch Eigeninitiative und Arbeitsplätze vernichte. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Die Sozialleistungsquote hat sich seit 20 Jahren nicht erhöht, sie ist sogar etwas abgesunken. Die Einkommensverteilung der letzten Jahrzehnte zeigt, dass sich die Unterschiede zwischen Arm und Reich weiter vergrößert haben. Den oberen, reichsten fünf Prozent der Bevölkerung gehören mehr als 50 Prozent des gesamten Geldvermögens. Dagegen gehören den unteren 50 Prozent der Bevölkerung nur fünf Prozent.
Die Umverteilung von unten nach oben ist fortgeschritten. Reiche werden reicher und Arme ärmer. Übrigens völlig unabhängig davon, wer gerade das Sagen in der Politik hat oder hatte; Christdemokraten oder Sozialdemokraten.
Es gibt mittlerweile eine massive Ungleichverteilung des rasant gewachsenen Vermögens, das mit mehr als 7,5 Billionen Euro eine gigantische Höhe erreicht hat. Die gleichzeitig vorhandenen Staatsschulden von 1,2 Billionen Euro, für deren Zinszahlungen allein mittlerweile jeder zweite Euro des Bundeshaushaltes aufgewendet werden muss, zeigen die Unfähigkeit des Staates, angemessen an der Reichtumsentwicklung teilzunehmen oder teilnehmen zu wollen. Den Reichen will man nicht an die Geldbörse oder ans Bankdepot. »Globalisierung« und »demographische Entwicklung« sind die Kampfbegriffe, wenn es um die Beschneidung von Rechten und Gesetzen geht. Globalisierung, heißt es, verlange Reformen. Früher brachten Reformen Verbesserungen für die meisten Menschen. Wenn heute von Reformen die Rede ist, handelt es sich fast ausschließlich um Leistungskürzungen. Wegen der Globalisierung müsse man den Arbeitslosen weniger Arbeitslosengeld geben; wegen der Globalisierung gehen wir an die Renten, beschneiden wir die Tarifautonomie und senken wir den Spitzensteuersatz für Reiche noch weiter…
Die demographische Entwicklung beschreibt den Zustand, dass einerseits die Lebenserwartung der Menschen in Deutschland steigt und andererseits die Geburtenrate sinkt. Im Durchschnitt werden weniger Kinder geboren als vor 50 oder 100 Jahren. Das ist so, weil das Risiko, arm zu sein oder arm zu werden, mit der Anzahl der Kinder steigt. Inzwischen sind weit mehr als eine Million Kinder Sozialhilfeempfänger. Am schlimmsten trifft es Alleinerziehende mit Kindern.
Mit den sogenannten Reformen mit denen die sozialen Sicherungssysteme umgebaut, ausgehöhlt und zerstört werden, entsteht ein politisches Vakuum. Keine der Parteien überzeugt mehr die Wähler. Das erinnert an Weimar. Rechtsradikales Gedankengut und rechtsradikale Organisationen können verstärkt Fuß fassen. Alte und neue Rechtsextreme kochen ihr reaktionäres Süppchen. Das geht bis weit hinein in den Bundestag. Die Rede des CDU-Abgeordneten Hohmann und die Reaktionen darauf sind nur ein Beleg dafür. Sozialabbau und Staatsumbau gehen Hand in Hand. All das bedeutet nichts Gutes für die Menschen. Wenn deutsche Soldaten jetzt durch die Welt ziehen und »das Böse« bekämpfen sollen – was böse ist, definiert z. Zt. Herr Bush aus Amerika – heißt das nichts anderes, als dass junge Leute für die Interessen anderer notfalls sterben müssen.
Wenn wir das alles mit uns geschehen lassen, nähern wir uns sehr schnell der »Schönen neuen Welt« wie sie Aldous Huxley und vor allem George Orwell in seinem Roman »1984« beschrieben haben. Eine kleine Clique irgendwo auf der Welt bestimmt und überwacht, was wir denken sollen, was wir zu tun und zu lassen haben. Wer dagegen verstößt, hat mit harter Bestrafung zu rechnen.
Die Agenda 2010 und die Gesetze des VW-Managers Hartz gehen voll auf Kosten der sogenannten kleinen Leute. Arbeitslose erhalten weniger und kürzer Arbeitslosengeld, beim Doktor müssen wir vorab Eintrittsgeld bezahlen, medizinische Leistungen fallen weg, die privaten Zuzahlungen im Krankheitsfall steigen, das Krankengeld müssen die Versicherten zukünftig genauso wie den Zahnersatz und Brillen ganz alleine finanzieren, das Rentenniveau sinkt weiter, und wir sollen später erst mit 67 in Rente gehen.
Dazu kommt die geplante Steuersenkung. Sie wird nötig, sagt die Wirtschaft und sagen auch Regierung und Opposition, um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu sichern und um Arbeitsplätze zu schaffen. Was wenige wissen über diesen Zusammenhang von Kürzungen und Steuersenkungen ist, dass die Arbeitslosen die Steuerentlastung der Großverdiener finanzieren werden. Die Kürzungen beim Arbeitslosengeld und die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe sollen rund 4,5 Milliarden Euro einbringen. Das entspricht in etwa dem Betrag, der den öffentlichen Haushalten durch die Senkung des Spitzensteuersatzes verloren geht. Daimler-Chrysler zahlt seit über zehn Jahren keinen müden Euro Gewerbesteuer, jeder Hundebesitzer in München zahlt mehr Steuern als der Weltkonzern Siemens. Durch die Steuerreform haben die Großkonzerne in den vergangenen Jahren Milliarden an Steuern eingespart. 2002 ist die Zahl der Euro-Millionäre um 25.000 auf 955.000 gestiegen. Anders ausgedrückt: Auf fünf Arbeitslose kommt ein Millionär. Durch den Verzicht auf die Vermögenssteuer werden diesen Millionären mehr Steuern geschenkt, als der Bund für die gesamte Arbeitslosenhilfe aufwendet.
Auch dem Unsinn, die sozialen Sicherungssysteme »rechneten« sich nicht mehr, muss entschieden entgegengetreten werden. Es gibt in unserer Gesellschaft viele Felder, die ausschließlich Kosten verursachen. Die Feuerwehr etwa, das Theater, das Rechtswesen, auch der ganze Bundestag werden sich nie rechnen. Aber ihre Existenz zahlt sich meist aus. Genau das gilt auch für die sozialen Sicherungssysteme.
Als Volkswirtschaft können wir nur dann erfolgreich bleiben, wenn wir wirtschaftlich vernünftig handeln. Wir sind Exportweltmeister und haben das im vergangenen Jahr 2003 wieder bestätigt, wir profitieren von der Kreativität und der Innovationsfähigkeit unserer Belegschaften. Moderne Produktionen sind mehr und mehr von solchen Arbeitnehmereigenschaften abhängig. Deswegen werden ein intaktes Gemeinwesen und die Pflege des sozialen Zusammenhalts immer bedeutsamer. Wir kennen aus dem Bereich der Umwelt das Prinzip der Nachhaltigkeit. Dieses Prinzip gilt auch für die soziale Struktur einer Gesellschaft. Unser Grundgesetz verpflichtet überdies nicht zur weiteren Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit, wohl aber zum Ausbau des Sozialstaates.
Wir, die diesen Raubbau nicht wollen, werden als »Bremser«, »Blockierer«, »Betonköpfe« und »Besitzstandswahrer« diffamiert. Wer aber Millionen besitzt, darf diese Besitzstände verteidigen, mehren und sich »Modernisierer« nennen. Wer als Manager im Jahr soviel verdient, wie ein Facharbeiter in der Hälfte seines gesamten Arbeitslebens, dann auch noch Abfindungen in Millionenhöhe und später Millionenpensionen kassiert, der kann nicht gleichzeitig Rentenkürzungen fordern. Das sind die wahren Blockierer des sozialen Fortschritts. Immer wieder und immer mehr kann man jene Gesinnung wieder öffentlich entdecken, wie sie auch bei den Hohmann-Sympathisanten deutlich geworden ist: Sie behaupten, man dürfe nicht mehr die Wahrheit sagen und meinen in Wirklichkeit den rechtsextremen Unsinn der ewig Unbelehrbaren.
Das gilt auch für den Bereich des Arbeitslebens. Die Arbeitslosen und nicht die Arbeitslosigkeit werden bekämpft. Arbeitslose werden gezwungen jede Arbeit anzunehmen. Den Arbeitszwang hatten wir im Faschismus – und die Bilder aus der Weimarer Republik, auf denen wir Menschen mit Schildern: »Nehme jede Arbeit an« sehen, sollten uns Warnung sein.
Die Arbeitslosenversicherung ist erkämpft worden, um im Fall von Arbeitslosigkeit vor Armut zu schützen. Arbeitslosengeld ist kein Almosen, das gnädig gewährt wird, es ist Rechtsanspruch, für den wir alle jeden Monat unseren Beitrag zahlen. Politiker haben kein Recht, daran permanent herumzuschnippeln und bösartige kollektive Verdächtigungen über »Faulenzer in der sozialen Hängematte« zu äußern.
Zum »modernen« Tenor der Verzichtsprediger gehört auch der Versuch, die Tarifautonomie zu beschneiden. Dahinter steht der Versuch, Löhne und Gehälter abzusenken und letztlich die Entscheidung über die Bezahlung allein in die Hände der Unternehmer zu legen. Wenn das geschieht, gibt es keine abgesicherte Bezahlung mehr, ganz zu schweigen von den vielen Regelungen, die heute in Tarifverträgen, die Arbeitsbedingungen absichern. Auch diese Tendenzen erinnern an die Endphase der Weimarer Republik. Welche Stimmung bereits eingezogen ist, hat BDI-Präsident Rogowski vor der amerikanischen Handelskammer demonstriert: »Ich würde gerne ein großes Lagerfeuer anzünden, das Betriebsverfassungsgesetz und die Tarifverträge verbrennen und noch einmal von vorne anfangen.« Das Wort »Verbrennen« weckt Assoziationen an die dunkelsten Zeiten unserer Geschichte.
Arbeitgeberpräsident Hundt fordert das Verbot von Streiks. Ein weiterer Vorstoß zur Abschaffung gesetzlicher Rechte – die letzten Jahre der Weimarer Republik, der Weg in die Diktatur des Hitlerfaschismus waren geprägt von »Notverordnungen«, von solchen Angriffen auf Arbeitnehmererrechte, auf Koalitions-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit.
Wenn solche Pläne endgültig umgesetzt werden, sind sie Garanten für Erfolg auf einem Gebiet: Sie machen arm. Arm im Falle von Arbeitslosigkeit, aber auch arm im Falle, dass man noch Arbeit hat oder wieder findet. Die sogenannten Ich-AGs, die 400- und 800-Euro-Billigjobs sind bereits Beispiele dafür. Zurück zur Dienstbotengesellschaft des 19. Jahrhunderts? Wir können auch nicht wollen, dass unsere Gesundheit zu einer Ware wird, die sich nur die leisten können, die einen dicken Geldbeutel haben. Die Unternehmer werden immer mehr aus der Finanzierung der gesetzlichen Krankenkassen entlassen.
Längst ist das solidarische Prinzip, das seit Bismarck eine große Erfolgsstory war und um das uns die ganze Welt beneidet hat, ausgehöhlt. Galt einmal die eherne paritätische Regel, dass die Arbeitnehmer 50 und die Arbeitgeber die anderen 50 Prozent zahlen, so werden heute die Zahlungen immer mehr auf die Schultern der Arbeitnehmer geladen. Die Ideen der Regierenden gehen vom Einfrieren des Anteils der Arbeitgeber auf dem heutigen Stand bis hin zu Überlegungen aus der so- genannten liberalen Ecke, dass Eigenverantwortung der Menschen auch bedeutet, selbst und alleinverantwortlich für den Krankheitsfall zu sorgen. Ein letzter Bereich: die Altersversorgung. Eine große Koalition im Bundestag gegen die Alten will an die Renten. Die durchschnittlichen Renten (noch »stolze« 978 Euro im Monat bei Männern, bei Frauen 570 Euro) sollen weiter gekürzt werden. Ein Arbeitnehmer muss heute 34 Jahre arbeiten, um später eine Rente in Höhe des Sozialhilfesatzes zu erhalten. Ist es nicht eine Schande und ein Hohn, für ein ganzes Arbeitsleben so abgespeist zu werden? Diejenigen im Bundestag, die die Renten noch kleiner machen wollen, erhalten nach zwei Parlamentsperioden schon eine Pension mit mehreren tausend Euro.
Was ist zu tun? Es geht darum, den Kampf gegen Sozialabbau und Staatsumbau zu organisieren und voranzutreiben, es geht um den Kampf für sozialen Fortschritt, für eine gerechtere Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums, für unsere demokratischen Rechte; übrigens auch über Deutschland hinaus. In vielen Ländern Europas sind die Deregulierer ebenfalls am Werk.
Notwendig ist eine friedliche Politik, ein selbst bestimmtes Leben für alle Menschen und die Verwirklichung einer gerechten Verteilung. Was wir brauchen, ist ein breites Bündnis. Alle die sich wehren wollen, müssen sich überall stärker in Bündnissen zusammenschließen. Wie das funktionieren kann, hat der 1. November 2003 in Berlin gezeigt: 100.000 sind gegen die Agenda 2010 von Schröder auf die Straße gegangen.
Die über hundertjährige Erfahrung der Arbeiterbewegung ist heute so brandaktuell wie eh und je: Solidarität muss stärker sein als die Gier nach Profit und Reichtum einiger weniger.
* Aus der Chronik:
17.- 24. 11. 30
Am 18. November fanden in Berlin Gehaltsverhandlungen für das Bankgewerbe statt. Die Bankkapitalisten forderten elfprozen tigen Abbau der Tarifgehälter und außerdem der Zulagen für die Berufsjahre.
21.- 28. 1. 31
Die Reichsanstalt für Arbeitslosenversicherung gibt bekannt, dass am 15. Januar insgesamt ungefähr 4.765.000 Arbeitssuchende in Deutschland gemeldet sind.
21.-28. 4. 31
Die gesamten von der deutschen Wirtschaft im Jahre 1930 aufgenommenen Kredite werden von dem Institut für Konjunkturforschung auf 7,22 Milliarden geschätzt. Gegenüber 1929 ist die Kreditauf- nahme der öffentlichen Hand im Jahre 1930 um 14 Prozent gestiegen.Die Wareneinfuhr nach Deutschland ist während des Monats März gegenüber dem Vormonat mit 604 Millionen Mark fast unverändert geblieben. Dagegen hat sich die Ausfuhr von 793 Millionen Mark auf 821 Millionen Mark gesteigert.
12.-19. 3. 32
Der Reichswirtschaftsrat hat ein Gutachten über die Arbeitsbeschaffung fertiggestellt. Die Quintessenz des Gutachtens ist, dass es wohl Arbeit genug gebe, aber kein Geld, sie zu finanzieren.
11.-18-6-32
Die Notverordnung ist da! Sie bringt die brutalsten Abbaumaßnahmen und Belastungen für die breite Masse der Werktätigen. Durch Abbau der Arbeitslosen-, Krisen- und Wohlfahrtsunterstützungen, durch Verkürzen der Unterstützungszeit, durch Verschärfung der Bedürftigkeitsprüfungen, die sowohl nach sechs Wochen Arbeitslosenunterstützung als auch nach Ablauf der Krisenunterstützung eingeschaltet ist, weiter durch Abbau der Renten für Kriegsopfer, für Invaliden, Witwen und Waisen und Unfälle werden im ganzen am Einkommen des Proletariats 900 Millionen gestrichen.
15.9.-1.10.32
Das Konjunkturforschungsinstitut hat festgestellt, dass wir in Deutschland 1,75 Millionen mehr Arbeitslose haben als die Arbeitsämter zählen. Das sind die, die durch einsichtsvolle Regierungsmaßnahmen von der Unterstützung ausgeschlossen wurden…
17.-22.10.32
An der Spitze steht die katastrophale Lage der Finanzen der Städte, der Länder, des Reiches. Man erwartet im Reich ein Defizit von 500 Millionen, die wichtigsten Städte des Reichs, wie die des Ruhrgebiets erklären, dass sie ihren Wohlfahrtslasten auch nicht im Entferntesten mehr gewachsen sind.<br
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