Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat mit Urteil ย (Az. 3 AZR 212/21) eine weitreichende Entscheidung getroffen, die die Auslegung von Versorgungsregelungen in Betriebsvereinbarungen prรคzisiert.
Der Dritte Senat stellte klar, dass Regelungen, die eine Hinterbliebenenversorgung durch Witwen- oder Witwerrenten ausschlieรen oder beschrรคnken sollen, einer besonders klaren und eindeutigen Formulierung bedรผrfen. Insbesondere dรผrfen Ausschlรผsse, die in den Vereinbarungen nicht ausdrรผcklich geregelt sind, nicht einfach angenommen werden.
Die Kernfrage war, ob eine Ehe, die nach dem vorzeitigen Ausscheiden des Arbeitnehmers aus dem Unternehmen, aber vor dem Beginn des Altersrentenbezugs geschlossen wurde, zu einem Ausschluss der Hinterbliebenenversorgung fรผhrt.
Das BAG entschied, dass dies nicht der Fall ist. Eine derartige Konstellation begrรผndet weiterhin einen Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung.
Was war der konkrete Streitfall?
Die Klรคgerin war mit einem ehemaligen Mitarbeiter der Beklagten verheiratet. Diese Ehe wurde erst nach dessen vorzeitigem Ausscheiden aus dem Unternehmen, jedoch vor dem Bezug der Altersrente geschlossen. Die Betriebsvereinbarung der Beklagten sah vor, dass eine Witwen- oder Witwerrente entfรคllt, wenn:
- Die Ehe zum Zeitpunkt des Ablebens des Versorgungsanwรคrters geschieden ist oder
- Die Ehe erst nach Beginn der Altersrentenzahlung geschlossen wurde.
Die Beklagte argumentierte, dass eine Witwenrente auch dann ausgeschlossen sei, wenn die Ehe nach dem vorzeitigen Ausscheiden des Mitarbeiters, jedoch vor dem Beginn des Rentenbezugs geschlossen wurde. Auf dieser Grundlage verweigerte die Beklagte die Auszahlung der Witwenrente an die Klรคgerin.
Wie entschied das BAG รผber die Witwenrente der Klรคgerin?
Das BAG entschied zugunsten der Klรคgerin und hob damit das Urteil des Landesarbeitsgerichts Bremen auf. Es begrรผndete dies wie folgt:
- Eindeutigkeit der Ausschlusskriterien: Ausschlussregelungen in Betriebsvereinbarungen mรผssen klar und unmissverstรคndlich formuliert sein. Die Regelung der Beklagten enthielt jedoch keine ausdrรผckliche Bestimmung fรผr den Fall, dass die Ehe nach vorzeitigem Ausscheiden, aber vor Rentenbeginn geschlossen wurde.
- Gesetzliche unverfallbare Anwartschaft: Aus der unverfallbaren Anwartschaft des verstorbenen Arbeitnehmers folgen weiterhin Ansprรผche auf Hinterbliebenenversorgung, wenn keine ausdrรผckliche Ausschlussregelung vorliegt.
- Keine automatische Auslegung: Eine weitergehende Auslegung, die Ausschlรผsse ohne klare Grundlage annimmt, ist nicht zulรคssig.
Welche Bedeutung hat das Urteil fรผr die Praxis?
1. Klarheit und Prรคzision bei Versorgungsregelungen
Das Urteil verdeutlicht die Notwendigkeit klarer Formulierungen in Betriebsvereinbarungen. Arbeitgeber, die Hinterbliebenenversorgung ausschlieรen oder beschrรคnken mรถchten, mรผssen dies in eindeutigen, konkreten Regelungen festhalten. Fehlt eine solche Klarheit, wird im Zweifel zugunsten der Versorgungsberechtigten entschieden.
2. Stรคrkung der Hinterbliebenenrechte
Das BAG stรคrkt die Rechte von Hinterbliebenen, insbesondere in Fรคllen, in denen Ehepartner nach dem Ausscheiden eines Mitarbeiters aus dem Unternehmen heiraten. Diese Entscheidung kรถnnte dazu fรผhren, dass mehr Witwen- oder Witwerrentenansprรผche geltend gemacht werden, sofern keine expliziten Ausschlusskriterien vorliegen.
3. Auswirkungen auf betriebliche Altersversorgung
Unternehmen, die Betriebsvereinbarungen รผber betriebliche Altersversorgung abgeschlossen haben, mรผssen ihre Regelungen auf den Prรผfstand stellen. Ungenauigkeiten oder Lรผcken kรถnnen zu erheblichen finanziellen Belastungen fรผhren, da Versorgungsansprรผche auch in unerwarteten Konstellationen bestehen bleiben kรถnnen.
Was bedeutet das Urteil fรผr Arbeitnehmer und Hinterbliebene?
Fรผr Arbeitnehmer:
Das Urteil zeigt die Bedeutung der gesetzlichen unverfallbaren Anwartschaft. Arbeitnehmer, die frรผhzeitig aus dem Berufsleben ausscheiden, behalten auch fรผr ihre Hinterbliebenen einen Anspruch auf Versorgungsleistungen, sofern die Regelungen keine klaren Ausschlรผsse vorsehen.
Fรผr Hinterbliebene:
Das Urteil bietet Hinterbliebenen, die in unklar geregelten Fรคllen Ansprรผche auf eine Witwen- oder Witwerrente geltend machen wollen, eine starke Rechtsgrundlage. Es lohnt sich, auch bei vermeintlich ausgeschlossenen Ansprรผchen eine rechtliche Prรผfung vorzunehmen.
Prรคzision ist entscheidend
Das Urteil des BAG hat weitreichende Folgen fรผr die Gestaltung und Auslegung von Versorgungsregelungen in Betriebsvereinbarungen. Es zeigt, dass Ausschlรผsse in der betrieblichen Altersversorgung nur dann wirksam sind, wenn sie unmissverstรคndlich und prรคzise formuliert sind. Fรผr Arbeitgeber bedeutet dies einen erhรถhten Prรผfungs- und Anpassungsaufwand, wรคhrend Arbeitnehmer und ihre Hinterbliebenen von einem stรคrkeren Schutz profitieren.
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