Keine fixe Angemessenheitsgrenze in der Sozialhilfe – Besteht eine verfassungsrechtlich problematische Ungleichbehandlung gegenüber Bürgergeld-Empfängern?
Der Antragstellerin steht kein Anspruch auf Grundsicherung als Zuschuss zu, weil sie ihren Lebensunterhalt ausreichend aus eigenem Vermögen bestreiten kann ( § 41 SGB XII ).
Sie ist zur Hälfte Eigentümerin eines Hausgrundstückes, wobei auch ohne das Vorliegen eines Wertgutachtens und trotz des erheblichen Renovierungsrückstaus und Instandsetzungsbedarfs des Hauses die Kammer aufgrund allgemeiner Lebenserfahrung der Überzeugung ist, dass das Hausgrundstück ganz erheblich mehr als 20.000 € wert ist.
Mithin ist bei der Antragstellerin, der die Hälfte des Grundstücks gehört, Vermögen vorhanden, das den allgemeinen Vermögensfreibetrag von 10.000 € – deutlich übersteigt.
Auslegung des Angemessenheitsbegriffs abweichend von § 12 Abs 1 S 2 Nr 5 SGB 2 – Verfassungsmäßigkeit
Die Kammer legt als Orientierungswert für eine angemessene Wohnfläche bei einer Einzelperson 90 m² zugrunde ( SG Reutlingen Az.- S 4 SO 1049/23 ER – ).
Auch wenn sie nur einen Teil des Hauses bewohnt, bleibt es – unangemessen
Dieser Wert wird durch die vorliegende Wohnfläche des Erd- und Dachgeschosses des bewohnten Einfamilienhauses von 147,4 m² eklatant überschritten. Dabei spielt keine Rolle, dass die Antragstellerin. nur einen Teil des Hauses wirklich bewohnt, denn es geht hier um die Frage des Vermögenswerts des Hausgrundstücks insgesamt.
Die Kammer stützt sich bei dem Orientierungswert von 90 m² auf die Kommentarliteratur zum SGB XII, in der als Grenzen der Angemessenheit für einen Ein-Personen-Haushalt in einem Haus Wohnflächen von 80 und 90 m² genannt werden. Dies deckt sich mit den Angaben des Sozialamtes. zu den Sozialhilferichtlinien Baden-Württemberg.
Keine Korrektur der bisherigen Auslegung des Begriffs der Angemessenheit nach § 90 Abs 2 Nr 8 SGB XII
Die im Zusammenhang mit der Einführung des Bürgergelds im Grundsicherungsrecht für Arbeitsuchende (Zweites Buch Sozialgesetzbuch – SGB II) erfolgte Neufassung der Parallelvorschrift zu § 90 Abs 2 Nr 8 SGB XII, des § 12 Abs 1 S 2 Nr 5 SGB II, rechtfertigt keine Korrektur der bisherigen Auslegung des Begriffs der Angemessenheit nach § 90 Abs 2 Nr 8 SGB XII.
Denn seit dem 01.01.2023 sind im SGB II Hausgrundstücke, die von einer bis zu vier Personen bewohnt werden und Wohnflächen bis 140 m² haben, von der Vermögensberücksichtigung ausgeschlossen.
Für eine Anpassung der Angemessenheitsgrenzen nach § 90 Abs. 2 Nr. 8 SGB XII an diesen nunmehr erstmalig vom Gesetzgeber im SGB II fix festgelegten Wert spricht, dass bis 2022 das Bestreben der Rechtsprechung bestand, die Angemessenheitsgrenzen für Wohnflächen im SGB II und SGB XII zu harmonisieren.
Dagegen spricht, dass der Gesetzgeber im Bürgergeld-Gesetz vom 20.12.2022 eine Neufassung des § 90 Abs. 2 Nr. 8 SGB XII nicht vornahm, obwohl dieses Gesetz zahlreiche Änderungen des SGB XII einschließlich des § 90 SGB XII enthält.
Daraus schließt das Gericht, dass der Gesetzgeber, bewusst keine fixe Angemessenheitsgrenze in § 90 Abs. 2 Nr. 8 SGB XII einfügte und es bei der bisherigen Auslegung des dortigen Angemessenheitsbegriffs belassen wollte (ebenso, wenn auch kritisierend: Conradis, info also 2023, 9, 13).
Keine verfassungsrechtlich problematische Ungleichbehandlung
Der Gesetzgeber fügte bewusst keine fixe Angemessenheitsgrenze in § 90 Abs 2 Nr 8 SGB XII ein und wollte es bei der bisherigen Auslegung des dortigen Angemessenheitsbegriffs belassen. Die Kammer sieht darin keine verfassungsrechtlich problematische Ungleichbehandlung
Denn während bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II/ Bürgergeld typisierend von vorübergehenden Bedarfslagen ausgegangen werden darf, liegen in der Sozialhilfe, insbesondere der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung typisierend dauerhafte Bedarfslagen vor.
Angesichts dieses erheblichen Systemunterschieds ist es gerechtfertigt, die v.a. für Einzelpersonen sehr großzügig erscheinende Wohnflächengrenze von 140 m² nicht vom SGB II auf das SGB XII zu übertragen. Das bisherige Bestreben der Rechtsprechung auf eine Harmonisierung ist mithin aufzugeben.
Praxistipp
Ein schlechter Gesundheitszustand kann eine Verwertung grundsätzlich ausschließen, wenn die Voraussetzungen vorliegen. Denn Erkrankungen des (Mit-)Eigentümers können der tatsächlichen Verwertbarkeit eines selbst bewohnten Hausgrundstücks entgegenstehen (BSG Urteil vom 09.12.2016 – B 8 SO 15/15 R – ).
Anmerkung Detlef Brock – Sozialrechtsexperte von Tacheles e. V.
Damit kann ich mich leider ganz und gar nicht anfreunden, denn ich sehe darin eine Ungleichbehandlung gegenüber Bürgergeld- Empfängern.
Betroffenen ist anzuraten gerichtlich dagegen zu klagen, bis eine höchstrichterliche Entscheidung dazu ergangen ist, denn bis zum heutigem Tage gibt es diese nicht.