Schwerbehinderung: Seniorin abgezockt – Sozialgericht stoppt die Pflegekasse

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Die Pflegekasse einer schwerbehinderten Seniorin nutzte deren Notlage aus, um ihr den Pflegegrad 3 zu verweigern. Doch die Betroffene setzte ihren Anspruch erfolgreich vor dem Sozialgericht durch, und die Kasse musste klein beigeben. (S 209 P 391/23)

Pflegekasse arbeitet auch gegen Pflegebedürftige

Wenn Sie pflegebedürftig sind, dann bedeutet das gerade bei chronischen Erkrankungen eine akute Notlage, wenn Sie nicht angemessen versorgt werden. Dabei dürfen Sie nicht generell damit rechnen, dass die Pflegekasse Ihre Notlage berücksichtigt und beendet.

Es geht nämlich um bares Geld. Weshalb die Pflegekasse ihre kritische Situation sogar ausnutzt, um Sie zu zwingen, auf berechtigte Ansprüche zu verzichten. Genau das erlebte eine Seniorin in Berlin am eigenen Leib.

Chronische Schmerzen wegen zahlreicher Operationen

Die Betroffene leidet seit 40 Jahren an einer seltenen Tumorerkrankung mit dem Namen Von-Hippel-Lindau-Syndrom. Sie hat deswegen diverse Operationen am Rücken und Kopf hinter sich, und diese führten zu chronischen Schmerzen am gesamten Körper. Psychisch leidet sie wegen ihres Zustands an schweren Depressionen. Sie lebt allein und ist pflegebedürftig. Ihr Pflegegrad betrug 2.

Operation führt zu Querschnittslähmung

Im Frühjahr 2022 wurde sie erneut operiert, und ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich noch einmal. Seitdem ist sie teilweise querschnittsgelähmt und inkontinent. Deshalb beantragte sie eine Höherstufung ihres Pflegegrades auf 3. Die Pflegekasse lehnte diese ab und wies auch einen Widerspruch der Gelähmten zurück. Die Erkrankte nahm Kontakt zum VdK Berlin-Brandenburg auf, um ihren Anspruch durchzusetzen.

Die Leiterin der Rechtsabteilung des VDK Berlin-Brandenburg, Julia Flint-Ayadi, erkannte schon beim ersten Gespräch, dass die damalige Pflege nicht ausreichte und klagte vor dem Sozialgericht Berlin gegen die Ablehnung.

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Kaum noch Bewegung möglich

Das Gericht gab ein Gutachten in Auftrag. Dieses zeigte, dass die Berlinerin ihre Arme und Beine kaum noch bewegen konnte und darum zu Hause häufig stürzte. Zudem konnte sie auch nicht mehr richtig mit den Händen greifen.

Sie benötigte, laut Gutachten, tägliche pflegerische Hilfe, unter anderem beim An- und Ausziehen, beim Kochen und beim Reinigen der Wohnung. Das Gutachten zeigte eindeutig, dass ein Pflegegrad 3 dringend erforderlich war, um die notwendige Versorgung zu gewährleisten.

Kasse muss Pflegegrad 3 anerkennen

Julia Flint-Ayadi zufolge war ein Pflegegrad 3 von Anfang an gegeben, und die ursprüngliche Einstufung in den Pflegegrad 2 sei falsch gewesen. Denn auch ohne die Verschlimmerung im Frühling 2024 hätten die Depressionen der Erkrankten die Pflegebedürftigkeit erfüllt.

Die Pflegekasse stellte angesichts der Fakten nicht mehr infrage, dass der Pflegegrad 3 statt des Pflegegrades 2 richtig war. Doch der Leistungsträger versuchte nach wie vor, sich aus Zahlungen herauszuwinden.

Auf Zahlung verzichten oder langwierige Prüfung

So behauptete die Pflegekasse, im Nachhinein lasse sich nicht mehr klären, ob die Depressionen der Betroffenen bereits von Anfang an vorhanden gewesen seien. Deshalb schlug die Kasse vor, den Pflegegrad nicht mit Wirkung ab Antragstellung im 8. Juli 2022 anzuerkennen, sondern erst ab dem Gutachten im Februar 2024 – und damit das entsprechende Pflegegeld erst 19 Monate später auszuzahlen.

Die Pflegekasse hätte so 4.363 Euro eingespart. Die Kasse erklärte zudem, wenn die Erkrankte diesen Vergleich ablehne, dann würde das ärztliche Gutachten langwierig geprüft.

Machtspiel mit der Notlage der Erkrankten

Flint-Ayadi sah darin ein skrupelloses Spiel mit der Hilfebedürftigkeit der Seniorin: „Die Pflegekasse wollte rücksichtslos die Notlage unseres Mitglieds ausnutzen und spekulierte, dass die Klägerin auf Pflegeleistungen für die Vergangenheit verzichtet, um nicht noch länger auf eine adäquate Pflege warten zu müssen.“

Eine langwierige Prüfung hätte im Klartext bedeutet: Ein Mensch, der nicht richtig greifen, seine Arme und Hände kaum bewegen kann, nicht in der Lage ist, selbst zu kochen und sich selbst anzuziehen, ist über Monate hinweg hilflos in seiner Wohnung eingeschlossen.

Die Rechtsvertretung der Berlinerin machte dieses falsche Spiel nicht mit. Sie kündigte im Gegenzug einen Eilantrag an, wenn die Pflegekasse nicht innerhalb einer Woche den Pflegegrad 3 auch rückwirkend anerkennen würde.

Die Pflegekasse versuchte zwar noch weiter, die Anerkennung zu verhindern, doch letztlich schlug das Gericht einen Vergleich vor, dem Kläger wie Beklagte zustimmten. Die Pflegekasse gewährte den Pflegegrad 3 rückwirkend ab Dezember 2022. Damit hatte die Erkrankte Anspruch auf eine Nachzahlung von 3.941 Euro. Ihr Pflegegeld im Pflegegrad 3 beträgt jetzt 573,00 Euro statt wie zuvor 332,00 Euro.