Schwerbehinderung: Kostenfreie Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs – Neues Urteil

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Bewohner von Pflegeheimen, die aufgrund einer Schwerbehinderung stark in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt sind und Pflegehilfe erhalten, haben Anspruch auf kostenfreie Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs (ÖPNV). Das Bundessozialgericht hat jetzt die Rechte schwerbehinderter Heimbewohner klargestellt und deren soziale Teilhabe gestärkt. Aktenzeichen: B 9 SB 2/23 R

Hintergrund der Entscheidung

Im verhandelten Fall ging es um eine Frau, die 1940 geboren wurde und in einem Pflegeheim lebt. Aufgrund ihrer Schwerbehinderung erhielt sie das Merkzeichen “G”, mit de, sie grundsätzlich Anspruch auf kostenfreie Beförderung im ÖPNV hat.

Obwohl sie Einkommen für ihren allgemeinen Lebensunterhalt hatte, reichte es nicht aus, um die hohen Heimkosten zu decken, weshalb der Sozialhilfeträger die Heimkosten übernahm. Dadurch wurde sichergestellt, dass die Frau trotz ihrer finanziellen Einschränkungen im Pflegeheim bleiben konnte.

Sie nutzte ihr verbleibendes Einkommen, um eine Wertmarke im Wert von 91 Euro zu kaufen, die ihr nun gemäß dem Urteil des Gerichts vom Land Niedersachsen erstattet werden muss.

Entscheidung des Sozialgerichts Braunschweig

Das Sozialgericht Braunschweig entschied zunächst, dass das Land Niedersachsen die Kosten für die Wertmarke erstatten muss. Diese Entscheidung war für die Heimbewohnerin zunächst positiv, da sie einen finanziellen Ausgleich für ihre Ausgaben erhielt.

Berufung beim Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen

Nach Berufung des Landes Niedersachsen hob das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen dieses Urteil jedoch auf und wies die Klage ab. Die Begründung war, dass die Frau nicht zum berechtigten Personenkreis gehöre, da sie keine laufenden Leistungen für den Lebensunterhalt nach dem Dritten oder Vierten Kapitel des SGB XII erhielt.

Sie bekam nur Hilfe zur Pflege nach dem Siebten Kapitel des SGB XII, was nach Auffassung des Landessozialgerichts nicht unter die Befreiungsregelung für den ÖPNV falle. Der Gesetzgeber wollte mit der Regelung nur Menschen unterstützen, die laufende Sozialhilfe zur Sicherung ihres Lebensunterhalts erhalten.

Die Entscheidung des Landessozialgerichts war daher eng an den Wortlaut des Gesetzes gebunden und ließ wenig Raum für eine erweiterte Auslegung zugunsten der Heimbewohnerin, was problematisch war, da es die besonderen Bedürfnisse und Umstände von Pflegeheimbewohnern unberücksichtigt ließ.

Entscheidung des Bundessozialgerichts

Das Bundessozialgericht widersprach dieser Ansicht und entschied zugunsten der Frau. Nach dem Urteil ist der Befreiungstatbestand des § 228 Absatz 4 Nummer 2 SGB IX nicht nur auf Personen beschränkt, die laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts beziehen.

Auch der Bezug von Pflegehilfe reicht aus, wenn diese in einem Alten- oder Pflegeheim erfolgt.

Erweiterte Anwendung der Regelung

Das Urteil des Bundessozialgerichts ergibt sich aus einer erweiterten Anwendung der Regelung, da Bewohner von Pflegeheimen, die Pflegehilfe beziehen, ebenfalls zum Sozialhilfesystem gehören. Die Entscheidung geht über den engen Wortlaut des Gesetzes hinaus und erkennt die spezielle Situation von Pflegeheimbewohnern an.

Durch den Wechsel vom Bundessozialhilfegesetz (BSHG) zum SGB XII im Jahr 2005 entstand eine unbeabsichtigte Regelungslücke, durch die Personen, die nur Pflegehilfe erhielten, von der Befreiung ausgeschlossen wurden, ohne dass dies beabsichtigt war. Das Bundessozialgericht hat diese Lücke nun geschlossen und damit die Rechte der betroffenen Menschen gestärkt.

Bundessozialhilfegesetz und SGB XII

Vor der Einführung des SGB XII im Jahr 2005 galt nach dem Bundessozialhilfegesetz eine einheitliche Regelung, die alle bedürftigen Heimbewohner von der Zahlung des Eigenanteils befreite.

Mit der Einführung des SGB XII wurden die Leistungen für den Lebensunterhalt und die Hilfen in besonderen Lebenslagen getrennt. Dadurch fielen einige Heimbewohner, die nur Pflegehilfe bekamen, aus der Regelung heraus.

Unbeabsichtigte Konsequenzen der Reform

Das Bundessozialgericht stellte jedoch klar, dass dies eine unbeabsichtigte Folge des Systemwechsels war und kein sachlicher Grund für den Ausschluss dieser Menschen besteht.

Es wurde betont, dass die Bedürfnisse von Heimbewohnern mit Pflegebedarf denen von Menschen, die laufende Leistungen für den Lebensunterhalt erhalten, in vielen Punkten sehr ähnlich sind, und es keine Rechtfertigung dafür gibt, diese beiden Gruppen unterschiedlich zu behandeln.

Die historische Entwicklung zeigt, dass der Gesetzgeber ursprünglich die Absicht hatte, alle hilfebedürftigen Heimbewohner zu entlasten, unabhängig davon, ob sie Pflegehilfe oder andere Leistungen erhalten.

Mit der Reform des Sozialhilferechts wurde jedoch eine Trennung zwischen verschiedenen Arten von Unterstützungsleistungen eingeführt, was zu einer ungleichen Behandlung führte.

Diese Entscheidung des Bundessozialgerichts stellte nun sicher, dass die ursprüngliche Intention des Gesetzgebers wiederhergestellt wird und Heimbewohner, die Pflegehilfe benötigen, die gleiche Unterstützung erhalten wie andere Bedürftige.

Forderung nach Gleichbehandlung

Das Richter betonten, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz eine erweiterte Anwendung des § 228 Absatz 4 Nummer 2 SGB IX erfordert. Die Frau gehört zum Sozialhilfesystem, und ihre Situation ist vergleichbar mit der von Menschen, die laufende Leistungen für den Lebensunterhalt erhalten.

Deshalb müssen auch Heimbewohner, die Pflegehilfe bekommen, von der Zahlung des Eigenanteils für die Wertmarke befreit werden. Viele von ihnen sind finanziell ähnlich eingeschränkt wie Empfänger von Lebensunterhaltsleistungen, weshalb eine Gleichbehandlung notwendig ist.

Vermeidung von Benachteiligungen

Das Gericht stellte außerdem fest, dass die unterschiedliche Behandlung von Heimbewohnern, die nur Pflegehilfe beziehen, und solchen, die Leistungen für den Lebensunterhalt erhalten, zu einer ungerechten Benachteiligung führen würde.

Die Belastung durch den Eigenanteil für die Wertmarke könnte diese Personen daran hindern, den ÖPNV zu nutzen, was ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben weiter einschränken würde. Daher war es notwendig, diese Regelung im Sinne der Gleichbehandlung anzupassen und sicherzustellen, dass alle bedürftigen Heimbewohner die gleichen Rechte haben.

Umsetzung der neuen Regelungen

Die Entscheidung des Bundessozialgerichts hat wichtige Auswirkungen auf die Praxis der Sozialbehörden. Bewohner von Alten- und Pflegeheimen, die aufgrund einer Schwerbehinderung stark in ihrer Mobilität eingeschränkt sind und Pflegehilfe beziehen, können nun Anspruch auf eine kostenfreie Wertmarke für den ÖPNV geltend machen, ohne dafür selbst zahlen zu müssen.

Die Sozialhilfeträger sind nun aufgefordert, diese Regelung umzusetzen und entsprechende Anträge von Heimbewohnern zu prüfen. Dies erfordert eine Anpassung der bisherigen Praxis und eine Sensibilisierung der Behördenmitarbeiter, um sicherzustellen, dass die neuen Vorgaben korrekt angewendet werden.

Um das Urteil zu verdeutlichen, hier ein Beispiel aus der Praxis:

Frau Müller ist 82 Jahre alt und lebt in einem Pflegeheim, da sie aufgrund einer schweren Behinderung nur eingeschränkt mobil ist und auf Pflege angewiesen ist. Ihr Merkzeichen „G“ (für schwerbehinderte Menschen mit Gehbehinderung) gibt ihr grundsätzlich Anspruch auf kostenfreie Nutzung des ÖPNV. Frau Müller hat nur eine kleine Rente, die gerade für ihren Lebensunterhalt reicht, aber nicht die Heimkosten deckt. Deshalb übernimmt der Sozialhilfeträger die Heimkosten für sie.

Bisher musste Frau Müller von ihrem geringen Einkommen zusätzlich eine Wertmarke für den ÖPNV kaufen, die 91 Euro kostet.

Da dies für sie eine erhebliche finanzielle Belastung darstellte, klagte sie, um die Kosten erstattet zu bekommen. Nach dem Urteil des Bundessozialgerichts wird nun festgelegt, dass Frau Müller Anspruch auf die kostenlose Wertmarke hat, auch wenn sie keine laufende Sozialhilfe für den Lebensunterhalt bezieht, sondern „nur“ Pflegehilfe bekommt.

Das bedeutet, dass Frau Müller zukünftig den ÖPNV kostenfrei nutzen kann, ohne dafür selbst zahlen zu müssen.

Es ermöglicht ihr, weiterhin am sozialen Leben teilzuhaben, zum Beispiel indem sie Verwandte besucht oder Einkäufe erledigt, was für sie ohne diese Erleichterung finanziell schwierig wäre. Der Sozialhilfeträger übernimmt nun die Kosten der Wertmarke vollständig.