Das Bundessozialgericht hat eine für Pflegebedürftige wichtige Frage geklärt. Demnach berechtigt die Hilfe zur Pflege plus erheblicher Beeinträchtigung im Straßenverkehr zur kostenlosen Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs. (B 9 SB 2/23 R)
Antrag auf Wertmarke für kostenlose Beförderung
Eine 84 Jahre alte Frau lebt in einem Pflegeheim in der Region Braunschweig. Sie erhält Hilfe zur Pflege, um die Heimkosten zu bezahlen. Ihren Lebensunterhalt finanziert sie aus eigenen Mitteln.
Sie hatte einen Antrag auf eine Wertmarke gestellt, welche ihr die kostenlose Beförderung im öffentlichen Nahverkehr erlaubt hätte. Die zuständige Versorgungsbehörde lehnte diesen Antrag ab.
Die Begründung lautete, nur Menschen, die reguläre Sozialleistungen erhielten, seien berechtigt, den öffentlichen Nahverkehr kostenfrei zu nutzen.
Schwerbehinderung mit Kennzeichen G
Die Betroffene ging aber weiterhin davon aus, dass sie als Inhaberin eines Schwerbehindertenausweises mit dem Kennzeichen G (Gehbehinderung) Anspruch auf unentgeltliches Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln hätte.
Das Merkzeichen G bedeutet, dass die Bewegungsfähigkeit des Menschen mit Behinderung im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist.
Das Merkzeichen G berechtigt gesetzlich zur unentgeltlichen Beförderung im Straßenverkehr. Dies regelt das Sozialgesetzbuch (SGB) Neuntes Buch (IX) – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen.
BSG erkennt Gesetzeslücke
Laut dem Paragrafen 228 des neunten Sozialgesetzbuches wird den Betroffenen auf Antrag eine für ein Jahr gültige Wertmarke ausgegeben.
Allerdings gibt es hier eine Gesetzeslücke, wie später das Bundessozialgericht feststellte.
Die Betroffene zog vor Gericht, und nach mehreren Instanzen entschied schließlich das Bundessozialgericht über diesen Fall. Das Urteil liefert einen Leitfaden für viele Menschen mit Schwerbehinderung, die sich in ähnlicher Situation befinden.
Gericht gibt Klägerin recht
Das Bundessozialgericht gab der Klägerin recht. Es gebe, dem Gericht zufolge, keinen sachlichen Grund, Heimbewohner, die allein Hilfe zur Pflege erhielten, von der kostenfreien Beförderung im öffentlichen Nahverkehr auszuschließen.
Zwar würden im Paragrafen 228 Absatz 4 Nummer 2 SGB IX wörtlich nur “Bezieher von den Lebensunterhalt sichernden laufenden Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII)” von den Kosten für den öffentlichen Nahverkehr befreit werden.
Auch der Erhalt von Hilfe zur Pflege falle nach dem SGB XII jedoch darunter, zumindest bei einem Anspruch auf Pflege in einem Pflege- oder Altersheim.
Wechsel von SGB XII auf SGB IX hinterlässt Regelungslücken
Der Systemwechsel vom Bundessozialhilfegesetz zum Sozialgesetzbuch XII habe 2005 eine planwidrige Regelungslücke im Sozialgesetzbuch IX hinterlassen.
Dieses Gesetzbuch umfasst die Regelungen zur Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderung sowie Menschen, die von Behinderung bedroht sind.
Hilfe zur Pflege berechtigt zur kostenfreien Beförderung
Mit der damaligen Gesetzesumstellung seien Heimbewohner, die lediglich Hilfe zur Pflege bezögen, aus dem Befreiungstatbestand herausgefallen, ohne dass der Gesetzgeber dies ersichtlich gewollt hätte.
Es gebe also keinen sachlichen Grund, hilfebedürftige Heimbewohner von der kostenlosen Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs auszuschließen.
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Dr. Utz Anhalt ist Buchautor, Publizist, Sozialrechtsexperte und Historiker. 2000 schloss er ein Magister Artium (M.A.) in Geschichte und Politik an der Universität Hannover ab. Seine Schwerpunkte liegen im Sozialrecht und Sozialpolitik. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Dokumentationen für ZDF , History Channel, Pro7, NTV, MTV, Sat1.