Schwerbehinderung: Gericht legt jetzt neue Berechtigung für Merkzeichen aG fest

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Das Merkzeichen „aG“ ermöglicht Menschen mit Mobilitätseinschränkungen nicht nur den Zugang zu Behindertenparkplätzen, sondern ermöglicht auch zahlreiche weitere Ausgleiche zur Behinderung im Straßenverkehr.

Dazu gehören spezielle Parkerleichterungen und Befreiungen von bestimmten Verkehrsbeschränkungen, die den Alltag der Betroffenen erheblich erleichtern können.

Doch wer genau hat Anspruch auf dieses Merkzeichen? Zwei Urteile des Bundessozialgerichts vom 9. März 2023 stärkten die Rechte von schwerbehinderten Menschen.

Hintergrund des Merkzeichens „aG“

Das Merkzeichen „aG“ wird an schwerbehinderte Menschen vergeben, die sich im öffentlichen Raum nur mit großer Anstrengung oder fremder Hilfe fortbewegen können.

Die Entscheidung über die Zuerkennung ist eng an die Frage gekoppelt, ob Schwerbehinderte Menschen in der Lage versetzt sein müssen, sich im öffentlichen Verkehrsraum selbstständig zu bewegen.

Dies bezieht sich insbesondere auf Umgebungen, die nicht barrierefrei gestaltet sind, wie Gehwege mit Bordsteinkanten oder unebenen Oberflächen. Entscheidend ist also nicht nur die allgemeine Gehfähigkeit der betroffenen Person, sondern auch die Fähigkeit, sich in verschiedenen, oft herausfordernden öffentlichen Umgebungen fortzubewegen.

Urteil 1: Muskeldystrophie und Mobilitätsverlust im Alltag

Im ersten Fall (Az. B 9 SB 1/22 R) ging es um einen 1972 geborenen Mann, der an Muskeldystrophie vom Typ Becker-Kiener litt. Diese degenerative Erkrankung verursacht eine fortschreitende Schwäche der Muskulatur, was mit erheblichem Mobilitätsverlust einhergeht.

Zusätzlich litt der Kläger an einer Herzmuskelschwäche, die seit 2016 mit einem Kardioverter-Defibrillator behandelt wurde. Aufgrund seiner sich verschlechternden gesundheitlichen Situation beantragte der Kläger eine Erhöhung seines Grades der Behinderung (GdB) von 60 auf 80 und die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“.

Behörde lehnt Merkzeichen aG ab

Die zuständige Behörde erhöhte den Grad der Behinderung GdB zwar auf 80, lehnte jedoch die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ ab. Begründet wurde dies damit, dass der Kläger unter idealen Bedingungen, etwa in einem ebenen Krankenhausflur, in der Lage sei, sich selbstständig zu bewegen.

Der Kläger legte gegen diese Entscheidung Widerspruch ein, der ebenfalls abgelehnt wurde, weshalb der Fall vor das Bundessozialgericht ging.

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Entscheidung des Bundessozialgerichts

Das Bundessozialgericht stellte klar, dass es für die Entscheidung über das Merkzeichen „aG“ nicht auf die Bewegungsfähigkeit unter optimalen Bedingungen ankommt, sondern vielmehr auf die Mobilität im realen öffentlichen Raum.

Dieser ist durch alltägliche Hindernisse geprägt, wie unebene Wege, Bordsteinkanten oder Treppen. Der Kläger war im öffentlichen Raum nur mithilfe einer fremden Person in der Lage, sich fortzubewegen, was die Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“ erfüllte.

Das Gericht betonte, dass auch Menschen, die noch eine Restfähigkeit zur Fortbewegung haben, Anspruch auf das Merkzeichen haben können, wenn sie für die Bewältigung des öffentlichen Raums auf Unterstützung angewiesen sind.

Urteil aus den Vorinstanzen

Das Sozialgericht Chemnitz und das Landessozialgericht Sachsen hatten die Klage zunächst abgelehnt, da die Restfähigkeit des Klägers, sich in geschützten Umgebungen zu bewegen, als ausreichend bewertet wurde.

Erst das Bundessozialgericht hob diese Urteile auf und entschied zugunsten des Klägers, wobei es betonte, dass der Bezug auf eine ideale Umgebung unzureichend sei. Entscheidend sei die Gehfähigkeit unter typischen öffentlichen Bedingungen, die durch Unebenheiten, Hindernisse und unvorhersehbare Gegebenheiten geprägt sind.

Betroffenen muss Mobilität im Alltag erleichtert werden

Das Bundessozialgericht erklärte weiter, dass der Sinn und Zweck des Merkzeichens darin liegt, Betroffenen die Mobilität im Alltag zu erleichtern, unabhängig davon, ob sie sich in einer Umgebung mit idealen Bedingungen bewegen können.

Es ist entscheidend, dass Menschen mit Mobilitätseinschränkungen in der Lage sein sollen, alltägliche Aktivitäten wie den Einkauf oder den Besuch öffentlicher Einrichtungen ohne unverhältnismäßige Schwierigkeiten zu bewältigen.

Urteil 2: Einschränkungen durch einen angeborenen Gendefekt

Im zweiten Verfahren (Az. B 9 SB 8/21 R) ging es um einen 2009 geborenen Jungen, der an einem angeborenen Gendefekt (22q11.2 Mikrodeletionssyndrom) litt, was zu einer motorischen Entwicklungsstörung führte. Der Junge war nur in der Lage, sich in einer ihm vertrauten Umgebung selbstständig zu bewegen.

In fremden Umgebungen war er hingegen stark auf die Hilfe einer Begleitperson angewiesen, die ihn entweder stützte oder ihn im Rollstuhl transportierte.

Auch hier wurde der Antrag auf das Merkzeichen „aG“ vom Versorgungsamt abgelehnt. Sowohl das Sozialgericht Ulm als auch das Landessozialgericht Baden-Württemberg gaben der Klage des Jungen jedoch statt, was schließlich vor dem Bundessozialgericht bestätigt wurde.

Gerichtliche Entscheidung zum zweiten Urteil

Das Bundessozialgericht stellte klar, dass das Merkzeichen „aG“ gerade für Situationen vorgesehen ist, in denen eine Person in fremden, ungeschützten Umgebungen nicht ohne fremde Hilfe mobil sein kann. Der Junge war aufgrund seiner Einschränkung in solchen Situationen stark beeinträchtigt und benötigte stets eine Begleitperson.

Das Gericht entschied, dass das Vorhandensein von Mobilität in einer vertrauten Umgebung keine Rolle spielt, wenn die betroffene Person in unbekannter Umgebung nicht ausreichend mobil ist.

Diese Entscheidung betont, dass das Merkzeichen „aG“ nicht nur in Bezug auf körperliche Fähigkeiten vergeben wird, sondern dass auch psychische und geistige Faktoren eine Rolle spielen können, wenn diese zu einer Einschränkung der Mobilität im öffentlichen Raum führen.

Wichtige Feststellungen im zweiten Urteil

Das Bundessozialgericht hob auch in diesem Urteil hervor, dass die Fähigkeit, sich in einer geschützten Umgebung wie dem eigenen Zuhause oder der Schule zu bewegen, nicht ausschlaggebend ist. Entscheidend sei vielmehr die Situation im öffentlichen Verkehrsraum, der durch unterschiedliche Widrigkeiten wie unebene Gehwege oder Bordsteinkanten geprägt ist.

Das Gericht unterstrich zudem, dass der Zweck des Merkzeichens „aG“ darin besteht, behinderten Menschen die gesellschaftliche Teilhabe zu erleichtern. Es sei entscheidend, dass die Betroffenen in der Lage sind, an den unterschiedlichen Facetten des gesellschaftlichen Lebens teilzunehmen, und das Merkzeichen hilft dabei, Mobilitätsbarrieren zu überwinden.

Individuelle Situation des Betroffenen ist entscheidend

Das Urteil stellte klar, dass die individuelle Situation jedes Betroffenen genau zu prüfen ist. Es sei nicht relevant, ob die betroffene Person eine bestimmte Strecke unter idealen Bedingungen bewältigen könne, sondern wie diese Person im Alltag, in unvorhersehbaren Situationen und bei wechselnden Umgebungsbedingungen zurechtkommt.

Die Tatsache, dass jemand auf eine Begleitperson angewiesen ist, verdeutlicht den Bedarf an Unterstützung, der durch das Merkzeichen anerkannt werden muss.

Mobilität im öffentlichen Raum als Maßstab

Die beiden Urteile des Bundessozialgerichts zeigen, dass das Merkzeichen „aG“ auf die Mobilität im öffentlichen Raum ausgerichtet ist. Es geht nicht darum, ob eine Person in einer geschützten Umgebung wie dem eigenen Zuhause oder einem Krankenhausflur gehen kann, sondern ob sie in der Lage ist, sich im öffentlichen Verkehrsraum selbstständig fortzubewegen.

Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung auf fremde Hilfe angewiesen sind, um sich im öffentlichen Raum zu bewegen, haben Anspruch auf das Merkzeichen „aG“.

Die Entscheidungen des Bundessozialgerichts stärkten das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Es ging den Richtern nicht nur um die reine Gehfähigkeit, sondern um die Möglichkeit,” alltägliche Aufgaben selbstbestimmt und eigenständig zu bewältigen”.