Gehbehinderte Menschen müssen nicht „voll gehunfähig” sein, um das Merkzeichen „aG” für eine „außergewöhnliche Gehbehinderung” zu erhalten.
Kann der behinderte Mensch keinen Schritt mehr gehen, ohne sich an einem Rollator oder Rollstuhl festhalten zu müssen, kommt ein Anspruch auf das Merkzeichen „aG” in Betracht, entschied das Sozialgericht Bremen (Az.: S 20 SB 297/16). Eine vollständige Gehunfähigkeit ist demnach keine Voraussetzung für die Erteilung des Merkzeichen „aG”.
Kurzstrecken mit Rollator, Langstrecken mit einem Rollstuhl
Im konkreten Fall leidet der Kläger seit seiner Geburt an einer spastischen Zerebralparese.
Aufgrund dieser Erkrankung kann der bei einem Jobcenter beschäftigte Jurist nur maximal 20 Meter gehen – und das auch nur, wenn er sich ständig festhalten kann.
Er ist deshalb auf eine Gehhilfe angewiesen. Für längere Strecken benutzt er einen Rollstuhl.
Das zuständige Versorgungsamt hatte bei dem Mann einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 festgestellt und ihm das Merkzeichen „G”, für Beeinträchtigung im Straßenverkehr, zuerkannt.
Kläger mit Schwerbehinderung klagte auf höheren GdB und Merkzeichen „aG”
Der schwerbehinderte Mann verlangte jedoch wegen seiner verschlechterten Gesundheit einen höheren GdB sowie das Merkzeichen „aG”. Dies berechtigt zur Nutzung von Behindertenparkplätzen und bringt Vorteile auch im öffentlichen Nahverkehr.
Dies lehnte die Behörde ab. Der GdB von 80 sei gerechtfertigt. Der Kläger sei auch nicht in „erheblichem Umfang” gehbehindert. Eine „praktische Gehunfähigkeit” liege nicht vor, da er sich mit Pausen mit Hilfe seines Rollators fortbewegen könne.
Auf die Benutzung eines Rollstuhls sei er nicht angewiesen. Eine Gleichstellung mit einem doppeloberschenkelamputierten Menschen sei daher nicht gerechtfertigt, so die Behörde.
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Kein höherer GdB aber Merkzeichen aG
Das Sozialgericht Bremen stellte zwar in seinem Urteil vom 29. November 2018 fest, dass der Kläger keinen Anspruch auf einen höheren GdB hat. In der Vergangenheit sei dieser bereits großzügig bemessen worden, so dass der derzeitige GdB von 80 seinem Gesundheitszustand entspreche.
Allerdings könne der Kläger das Merkzeichen „aG” für sich beanspruchen. Nach einer seit 2018 geltenden gesetzlichen Neuregelung müsse hierfür mindestens ein GdB von 80 und eine „erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung” vorliegen.
Die Vorschriften nennen laut Sozialgericht hier als Regelbeispiel das Angewiesensein auf einen Rollstuhl. Doch der Kläger sei Rollstuhlfahrern gleichzustellen, so die Bremer Richter.
Für das Merkzeichen „aG” sei eine „absolute Gehunfähigkeit” nicht erforderlich. Der Kläger könne nur mit einem Rollator stehen und dann auch nur höchstens 20 Meter laufen. Danach müsse er wegen bestehender Schmerzen eine Pause machen.
Damit liege eine „außergewöhnliche Gehbehinderung” vor, so dass der Kläger das Merkzeichen „aG” und die damit verbundenen Parkerleichterungen im Straßenverkehr beanspruchen kann. Auf diese Weise werde der Kläger auch in der Ausübung seines Berufes unterstützt.
Ausgleichsvorteile durch Merkzeichen aG
Wichtig war dem Kläger das Merkzeichen aG zu erlangen, da diese Einstufung erhebliche Vorteile mit sich bringt.
Das Merkzeichen aG hat folgende Vorteile:
- Günstige Beförderung im öffentlichen Nahverkehr (Straßenbahn, Bus, Obus, U- und S-Bahn)
- Weniger Steuern
- Behinderten-Pauschbetrag oder außergewöhnliche Belastungen
- Steuerliche Berücksichtigungen von Pflege- und Krankheitskosten
- Steuerbefreiung bei der KfZ-Auto-Steuer
- Steuerliche Berücksichtigung von Betreuungskosten für Kinder
- Fahrdienste / Fahrtkosten Krankenbeförderung
- Kraftfahrzeughilfe
- Befreiung von Fahrverboten in Umweltzonen (Als Fahrzeugführer sowie als Mitfahrer)
- Parkerleichterung (blaue Parkkarte)
Weitere Urteile
Auch das Bundessozialgericht hat die Zugangsmöglichkeiten zum Merkzeichen aG in zwei Urteilen deutlich gesenkt. Mehr dazu in diesem Artikel.
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