Auch eine diagnostizierte psychische Störung rechtfertigt nicht unbedingt eine Erwerbsminderung. Entscheidend ist vielmehr, ob der Betroffene zumindest sechs Stunden pro Tag in der Lage ist, eine Erwerbsarbeit zu verrichten. So entschied das Landessozialgericht Baden-Württemberg in einem konkreten Fall. (L 13 R 276/22).
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Panikstörungen und Depression
Der Betroffene war zuletzt als Textilarbeiter beschäftigt und erhält Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II (Bürgergeld, demnächst Neue Grundsicherung). Er hatte bereits 2011 und 2014 Anträge auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente gestellt und blieb beide Male erfolglos. 2018 beantragte er wieder eine solche Rente. Er begründete dies damit, dass er an einer Panikstörung und an Depressionen leide.
Rentenversicherung sieht keine Voraussetzungen für eine Erwerbsminderung
Die gesetzliche Rentenversicherung lehnte den Antrag ab. Sie begründete dies damit, dass er mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein könnte. Seine Einschränkungen reichten für eine Erwerbsminderung nicht aus.
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Angststörung und Narzissmus
Er legte Widerspruch ein. Die Rentenversicherung ließ den Betroffenen deshalb medizinisch untersuchen. Das Ergebnis ergab die Diagnose einer generalisierten Angststörung. Hinzu kam eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen und histrionen Anteilen. Körperliche Einschränkungen umfassten Bluthochdruck sowie wiederkehrende Rückenschmerzen ohne neurologisches Funktionsdefizit und ohne Bewegungseinschränkung der Wirbelsäule.
Der Gutachter schloss, dass der Betroffene mit Rücksicht auf seine Einschränkungen in der Lage sei, mittelschwere Tätigkeiten unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes noch mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten. Auch eine teilweise Erwerbsminderung war laut Gutachten also nicht vorhanden. Deshalb wies die Rentenversicherung den Widerspruchsbescheid zurück.
Klage vor dem Sozialgericht
Der Mann klagte gegen die Entscheidung vor dem Sozialgericht. Er verwies auf seine bestehenden Erkrankungen und ergänzte, dass er an Hypoglykämie leide. Dies habe der Gutachter nicht berücksichtigt, es führe aber zu starken Einschränkungen im Alltag. Vor Gericht legte er weitere medizinische Unterlagen vor. Die Rentenversicherung konterte mit einer sozialmedizinischen Stellungnahme, die keine Erwerbsminderung erkannte.
Behandelnde Psychiaterin hält den Betroffenen für erwerbsgemindert
Das Sozialgericht vernahm die behandelnden Ärzte des Betroffenen als sachverständige Zeugen. Der Hausarzt sagte aus, dass der Betroffene an einer rezidivierenden depressiven Störung in mittelgradiger Episode, einer Panikstörung, einer generalisierten Angststörung, einem zervikalem Schwindel, einer Osteochondrose und einer Spondylarthrose an der Halswirbelsäule sowie an Lumboischialgien leide. Allerdings müsse hier ein Psychiater entscheiden, ob zumindest eine leichte Tätigkeit sechs Stunden am Tag möglich sei.
Die behandelnde Psychiaterin führte aus, dass der Betroffene an generalisierten Ängsten sowie an einer Panikstörung leide, verbunden mit einer schwerwiegenden Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen und ängstlich vermeidenden Anteilen. Hinzu kämen depressive Einbrüche. Er sei aufgrund seines psychischen Zustands nicht fähig, leichte Tätigkeiten von mindestens sechs Stunden pro Tag zu verrichten. Er sei also erwerbsgemindert.
Das Gericht beauftragt ein nervenärztliches Gutachten
Das Sozialgericht zog eine weitere Gutachterin heran, die die neurologischen Störungen bewertete. Sie sah eine mögliche generalisierte Angststörung sowie mögliche chronische Schmerzen im unteren Rücken. Sie erklärte jedoch, es bestehe für den Kläger ein erheblicher sekundärer Krankheitsgewinn, weil sich wegen der Erkrankung seine Tochter um ihn kümmern würde. Sie habe den Eindruck gewonnen, dass er die Darstellung seiner Symptome übertreibe.
Sie könne keine Diagnose mit ausreichender Sicherheit stellen, da die Glaubwürdigkeit der Angaben des Betroffenen fraglich sei. Eine Einschränkung, die die Dauer der täglichen Erwerbstätigkeit betreffe, sei nicht anzunehmen.
Ein weiteres Gutachten, dieses Mal ein internistisches, kam ebenfalls zu dem Ergebnis, dass der Betroffene sechs Stunden pro Tag arbeiten könne.
Das Sozialgericht wies die Klage ab. Es gebe keinen Nachweis für eine Erwerbsminderung, die zu einer Rente berechtigt. Maßgeblich sei das psychiatrische Gutachten. Laut diesem bestehe lediglich die Möglichkeit einer generalisierten Angststörung. Der Betroffene ging vor dem Landessozialgericht in Berufung.
Landessozialgericht erklärt Grundlagen einer Erwerbsminderung
Das Landessozialgericht wies die Berufungsklage ab und stimmte dem Sozialgericht zu. Dabei erläuterten die Richter ausführlich, was zu einer Erwerbsminderungsrente berechtigt: ”
Maßgebend (…) ist (…), ob das in Ansehung der funktionellen Auswirkungen der psychischen Erkrankung verbleibende Fähigkeitsprofil des Versicherten (…) eine Teilnahme am Erwerbsleben zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erlaubt. (…) Funktionsbeeinträchtigungen, in gegebenem Kontext insb. die geistig-psychische Belastbarkeit, sind im Recht der Erwerbsminderungsrenten nur dann relevant, wenn sie sich auf die Fähigkeit zur Teilhabe unter besonderer Berücksichtigung des Erwerbslebens quantitativ (im Gegensatz zur bloß qualitativen Einschränkungen) auswirken.”
Die psychopathologischen Befunde würden eine derart schwerwiegende Einschränkung nicht belegen. Wörtlich sagten die Richter: “Mithin ist der Senat nicht davon überzeugt, dass die Leistungsfähigkeit des Klägers durch die bestehenden Gesundheitsstörungen in quantitativer Hinsicht eingeschränkt ist. Der Kläger ist daher weder teilweise noch voll erwerbsgemindert. (…) Der Kläger hat mithin keinen Anspruch auf die Gewährung einer vollen oder einer teilweisen Rente wegen Erwerbsminderung.”