Weil eine Bürgergeld-Bezieherin ihre schwerbehinderte Mutter pflegte, verlangte das Jobcenter die Bürgergeld-Leistungen zurück. Doch das Landessozialgericht kassierte diese Entscheidung der Behörde.
Die Voraussetzung, um Bürgergeld zu erhalten, ist Hilfebedürftigkeit. Wenn jemand diese Leistung bezieht, aber den Zustand durch sozialwidriges Verhalten, durch Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit selbst herbei geführt hat, dann kann das Jobcenter bereits gezahlte Leistungen zurückfordern.
Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen entschied allerdings in einem konkreten Fall gegen das zuständige Jobcenter, dass jemand nicht sozialwidrig handelt, weil er seine Stelle im Schichtdienst kündigt, um die schwerbehinderte und bedürftige Mutter zu pflegen. Dann hat die Behörde kein Recht, Bürgergeld-Leistungen zurückzufordern. (L 13 AS 162/17)
Vollzeitstelle am Flughafen und pflegebedürftige Mutter
Die Betroffene arbeitete in Vollzeit als Hallenaufsicht am Bremer Flughafen mit dem Ziel, Stewardess zu werden. Zudem bezog sie ergänzende Leistungen vom Jobcenter. Sie lebte mit ihrer schwerbehinderten Mutter zusammen im Kreis Osterholz und versorgte außerhalb der Arbeitszeit die Pflegebedürftige.
Die Mutter brach sich eine Rippe, und ihr gesundheitlicher Zustand verschlechterte sich. Die Tochter konnte jetzt ihre Arbeit im Schichtdienst nicht mehr mit der Pflege vereinbaren und schloss deshalb mit ihrem Arbeitgeber einen Auflösungsvertrag.
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Jobcenter unterstellt sozialwidriges Verhalten
Das Jobcenter behauptete, die Auflösung des Arbeitsverhältnisses sei sozialwidrig und forderte von der Tochter 7.1000 Euro zurück. Die Behörde unterstellte außerdem, die Betroffene habe schon bei Abschluss des Arbeitsvertrages gewusst, dass sie im Schichtdienst arbeitet und nicht umziehen könne.
Die Mutter habe Pflegestufe II, und die Versorgung könnte auch ein Pflegedienst übernehmen. Deshalb hätte die Tochter das Arbeitsverhältnis nicht auflösen müssen, und ihr Verhalten sei zumindest grob fahrlässig.
Worauf bezieht sich das Jobcenter?
Beim Jobcenter gilt als fachliche Weisung der Paragraf 34 des Sozialgesetzbuches II „Ersatzansprüche bei sozialwidrigem Verhalten“. Bei der Einführung des Bürgergeldes wurden diese fachlichen Weisungen zwar redaktionell angepasst, inhaltlich blieben sie aber gleich.
Im entsprechenden Paragrafen steht im Absatz 1:
„Wer nach Vollendung des 18. Lebensjahres vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach diesem Buch an sich oder an Personen, die mit ihr oder ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben, ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat, ist zum Ersatz der deswegen erbrachten Geld- und Sachleistungen verpflichtet.“
Es geht vor das Sozialgericht
Die Tochter ließ es sich nicht bieten, die Pflege ihrer bedürftigen Mutter als „grob fahrlässig“ und „sozialwidrig“ zu bezeichnen und ging vor das Sozialgericht. Dieses erklärte der Unterstellung des Jobcenters eine harte Absage. Erstens hätte die Tochter objektiv Recht.
Zwar seien selbst bei Pflegestufe II Arbeitszeiten von bis zu sechs Stunden am Tag zumutbar. Doch dreimal täglich anfallende Pflege sei mit einer Arbeit im Schichtsystem auf Abruf mit variablen Zeiten nicht zu realisieren.
Ein Arbeitsverhältnis aufzulösen, um die schwerbehinderte und pflegebedürftige Mutter zu pflegen, stelle nicht zwingend ein sozialwidriges Verhalten dar. Vielmehr ginge es um den Einzelfall.
Jobcenter ignoriert das Recht auf Selbstbestimmung
Das Gericht kritisierte zweitens das Jobcenter auch wegen dessen Anmaßung, die Versorgung könne ein Pflegedienst übernehmen. Die Mutter würde einen Pflegedienst nämlich ablehnen und nur ihre Tochter akzeptieren. Laut Gericht ignorierte die Behörde also das Selbstbestimmungsrecht der Mutter.
Austesten ist berechtigt
Drittens gelte für die Vereinbarkeit von Arbeit und Pflege ein objektiver Maßstab. Die Behauptung des Jobcenters, die Tochter habe von den Arbeitsbedingungen von Anfang an gewusst, spielt, laut Gericht, keine Rolle.
Ein Leistungsempfänger habe das Recht, auszutesten, ob sich eine Arbeit mit den Lebensumständen vereinbaren lasse, ohne fürchten zu müssen, dass bei Scheitern Rückforderungen des Jobcenters drohen.
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Dr. Utz Anhalt ist Buchautor, Publizist, Sozialrechtsexperte und Historiker. 2000 schloss er ein Magister Artium (M.A.) in Geschichte und Politik an der Universität Hannover ab. Seine Schwerpunkte liegen im Sozialrecht und Sozialpolitik. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Dokumentationen für ZDF , History Channel, Pro7, NTV, MTV, Sat1.