Bürgergeld: Eine Sozialwohnung kann nicht zu teuer sein

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Das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg hat klargestellt, dass Sozialwohnungen für Empfängerinnen und Empfänger von Bürgergeld nicht als „unangemessen“ eingestuft werden dürfen – selbst wenn die Miete über den bislang herangezogenen Richtwerten liegt. Für Jobcenter bedeutet das: In angespannten Wohnungsmärkten wie Berlin sind die tatsächlichen Mietkosten solcher Wohnungen grundsätzlich vollständig zu übernehmen.

Das Urteil (Az. L 32 AS 1888/17) hat weit über den Einzelfall hinaus Wirkung, weil es den Maßstab für die Prüfung der Angemessenheit neu justiert.

Der Fall: Streit um 160 Euro – und um den richtigen Maßstab

Ausgangspunkt war die Klage einer alleinstehenden Berlinerin, die in den Jahren 2015/2016 für ihre 90-Quadratmeter-Drei-Zimmer-Wohnung monatlich rund 640 Euro Miete zahlte.

Das Jobcenter erkannte nur etwa 480 Euro als „angemessen“ an und verwies auf die Ausführungsvorschriften „AV-Wohnen“ und den Berliner Mietspiegel für einfache Lagen. Die Differenz von rund 160 Euro sollte die Klägerin selbst tragen. Das LSG entschied dagegen, dass dieses Vorgehen rechtswidrig war – und verpflichtete das Jobcenter zur Übernahme der vollen Kosten.

Worum es rechtlich geht: Angemessenheit muss real verfügbare Wohnungen abbilden

Rechtlicher Dreh- und Angelpunkt ist § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II: Bedarfe für Unterkunft und Heizung sind in tatsächlicher Höhe anzuerkennen, „soweit diese angemessen sind“.

Die höchstrichterliche Rechtsprechung verlangt dazu ein schlüssiges Konzept und einen Vergleichsraum – methodisch häufig als zweistufige Prüfung beschrieben.

In Berlin hatte die Verwaltung für die Angemessenheitsgrenzen jedoch maßgeblich auf Durchschnittsmieten einfacher Wohnungen nach Mietspiegel abgestellt. Das LSG kritisiert, dies bilde nur den „durchschnittlichen Fall“ ab, nicht aber die obere Grenze – und vor allem nicht die reale Verfügbarkeit von Wohnungen zu diesen Preisen. Angemessen ist nur, was auch tatsächlich anmietbar ist.

Die Realität des Berliner Wohnungsmarkts: Fakten statt Rechenmodell

Um die Marktlage zu bestimmen, stützte sich das Gericht auf den Wohnraumbedarfsbericht der Senatsverwaltung (2019).

Danach gab es in Berlin rund 76.000 Haushalte im Leistungsbezug, deren Mietkosten über den vom Jobcenter angesetzten Grenzwerten lagen; zugleich bestand eine Angebotslücke von 345.000 Wohnungen allein für Einpersonenhaushalte.

In einer solchen Lage – so das LSG – sei es den Gerichten nicht möglich, einen belastbaren Grenzwert zu bestimmen, wenn dieser mit der tatsächlichen Versorgungslage kollidiert. Maßgeblich ist deshalb, ob zu einem Richtwert überhaupt Wohnungen für Leistungsberechtigte verfügbar sind.

Warum Sozialmieten der richtige Referenzpunkt sind

Kern der Entscheidung ist die Abkehr vom Mietspiegel als primärem Maßstab zugunsten der Mieten im sozialen Wohnungsbau. Sozialwohnungen werden staatlich gefördert, um einkommensschwachen Haushalten – ausdrücklich auch Leistungsberechtigten – angemessenen Wohnraum zu sichern.

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Was der Staat fördert und rechtlich zulässt, kann grundsicherungsrechtlich nicht gleichzeitig „unangemessen“ sein. Das LSG formuliert diesen Grundsatz ausdrücklich: Wohnraum, der nach sozialem Wohnungsbau und Wohngeldgesetz angemessen ist, kann in angespannten Märkten nicht als unangemessen gelten.

Die Wohngeldtabelle als Obergrenze? In Berlin ungeeignet

Das Bundessozialgericht (BSG) hat in der Vergangenheit die Werte der Wohngeldtabelle zuzüglich zehn Prozent als mögliche Höchstgrenze herangezogen, wenn es an einem schlüssigen Konzept fehlt. Für Berlin hält das LSG diese Hilfskonstruktion jedoch für untauglich:

Selbst nach diesen Maßstäben wären viele Sozialwohnungen als „zu teuer“ zu qualifizieren – ein Widerspruch zum Förderzweck. Auch deshalb musste im konkreten Fall auf Sozialmieten abgestellt und die volle Miete anerkannt werden.

Folgen für die Praxis: Jobcenter müssen umsteuern – und oft nachzahlen
Die Entscheidung zwingt Jobcenter in angespannten Märkten, die tatsächliche Verfügbarkeit von Wohnraum in ihre Angemessenheitsprüfung einzubeziehen und Sozialmieten als Referenz ernst zu nehmen.

Wo auf pauschale Mietspiegel-Richtwerte oder zu enge Tabellen abgestellt wurde, drohen Korrekturen – einschließlich Nachzahlungen für zu Unrecht gekürzte Bedarfe. Für Betroffene bedeutet das mehr Rechtssicherheit: Wer eine Sozialwohnung zu den zulässigen Konditionen bewohnt, muss nicht befürchten, auf „unangemessen“ verwiesen zu werden, nur weil ein theoretischer Richtwert unterschritten wird.

Offene Rechtslage auf Bundesebene – Revision zugelassen

Das LSG hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen. Damit wird Frage – welche Rolle Sozialmieten und reale Verfügbarkeit bei der Angemessenheitsprüfung spielen – auch Bundessozialgericht behandelt.

Unabhängig davon bleibt die Linie des BSG maßgeblich, wonach Angemessenheitswerte auf einem schlüssigen Konzept beruhen müssen; Ersatzmaßstäbe wie die Wohngeldtabelle dürfen die tatsächliche Marktlage nicht verfehlen.

Einordnung: „Politisch Gewolltes“ darf Leistungsberechtigten nicht verwehrt werden

Das Urteil bringt es auf den Punkt: Was der Staat als sozialen Wohnraum definiert, darf Bürgergeld-Beziehenden nicht mit dem Hinweis auf abstrakte Tabellen versagt werden.

In Städten wie Berlin, in denen die Angebotsknappheit dokumentiert ist, verbietet sich eine Angemessenheitsprüfung, die an real nicht erreichbaren Mietpreisen anknüpft.

Die Entscheidung schafft damit mehr Kongruenz zwischen sozialer Wohnraumförderung und Grundsicherung – und korrigiert eine Praxis, die die Marktrealität oft ausblendete.

Für Mieterinnen und Mieter ist das ein wichtiges Schutzsignal; für Jobcenter ein Auftrag, die Konzepte an tatsächlicher Verfügbarkeit auszurichten.