Das Bundessozialgericht (BSG) hat in einem Urteil klargestellt, dass bei einer rückwirkenden Zuerkennung der vollen Erwerbsminderung die maßgebliche Anspruchsgrundlage nicht die Bescheiderteilung, sondern der Zeitpunkt des tatsächlichen Eintritts der Erwerbsminderung ist.
Inhaltsverzeichnis
Der Fall im Überblick
Im Mittelpunkt des Verfahrens stand ein alleinstehender, 1957 geborener Kläger mit einem Grad der Behinderung von 100 und dem Merkzeichen „G“, welches ihm bereits im März 2016 vom zuständigen Versorgungsamt zuerkannt worden war. Zunächst erhielt er Leistungen nach dem SGB II vom Jobcenter seiner Optionskommune, das als zugelassener kommunaler Träger auch die Sicherung des Lebensunterhalts verantwortete.
Im August 2017 beantragte der Kläger beim Jobcenter einen Mehrbedarf aufgrund seiner fortlaufenden Arbeitsunfähigkeit und einer Krebserkrankung. Diesen begründete er mit der Notwendigkeit einer kostenaufwändigen Ernährung sowie mit den Regelungen des § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII.
Das Jobcenter erkannte zwar den Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung an, lehnte jedoch den Antrag auf Mehrbedarf nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII ab. Zudem wurde der Antrag des Klägers auf Leistungen nach § 21 Abs. 4 SGB II ebenfalls abgelehnt. Der letzte ablehnende Bescheid datierte vom 21. August.
Rentenantrag und weitere Entwicklungen
Im September stellte der Kläger einen Rentenantrag bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Bund, der ihm rückwirkend eine unbefristete Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 1. September zusprach. Dieser Bescheid erging im November.
Im Anschluss daran gewährte das Jobcenter des Beklagten dem Kläger Grundsicherungsleistungen im Alter und bei Erwerbsminderung nach SGB XII, jedoch erst ab dem 1. November.
Der Kläger erhob daraufhin Widerspruch und beantragte die rückwirkende Anerkennung des Mehrbedarfs auch für die Monate September und Oktober. Nach Ablehnung dieses Widerspruchs durch das Jobcenter zog der Kläger vor das Sozialgericht Dresden.
Entscheidungen der Vorinstanzen
Das Sozialgericht Dresden gab dem Kläger Recht und verurteilte das Jobcenter zur Zahlung des Mehrbedarfs in Höhe von insgesamt 139,06 Euro für die Monate September und Oktober. Es argumentierte, dass die Voraussetzungen für den Mehrbedarf bereits ab dem Zeitpunkt der rückwirkend zuerkannten Erwerbsminderung erfüllt waren.
Im Berufungsverfahren hob das Sächsische Landessozialgericht (LSG) diese Entscheidung jedoch auf und wies die Klage ab. Das LSG vertrat die Ansicht, dass der für die Grundsicherungsleistungen erforderliche Antrag für den Zeitraum September und Oktober nicht wirksam gestellt worden sei.
Da der Kläger zu diesem Zeitpunkt noch Leistungen nach dem SGB II bezog, sei die Gewährung von Leistungen nach dem SGB XII ausgeschlossen gewesen. Die Berufung des Klägers wurde daher abgelehnt.
Revision beim Bundessozialgericht
Der Kläger legte Revision beim BSG ein und argumentierte, dass der notwendige Antrag auf Mehrbedarf bereits im August gestellt worden sei und eine rückwirkende Gewährung möglich sei, sobald die Voraussetzungen der vollen Erwerbsminderung festgestellt würden.
Das BSG entschied zugunsten des Klägers. Es hob das Urteil des LSG auf und bestätigte den Anspruch des Klägers auf den Mehrbedarf auch für September und Oktober. Maßgeblich für den Anspruch sei der Zeitpunkt des tatsächlichen Eintritts der vollen Erwerbsminderung, nicht der Zeitpunkt der Bescheiderteilung durch die Rentenversicherung.
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Rechtliche Begründung des BSG
Das BSG stellte klar, dass § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII den Anspruch auf Mehrbedarf nicht an den Zeitpunkt der Bescheiderteilung durch den Rentenversicherungsträger knüpft, sondern an den tatsächlichen Eintritt der vollen Erwerbsminderung. Der Anspruch auf Mehrbedarf bestehe ab dem Zeitpunkt, ab dem die Erwerbsminderung vorliegt, unabhängig davon, wann dies durch die Rentenversicherung offiziell festgestellt wird.
Antragsstellung und Fristen
Das BSG widersprach der Auffassung des LSG, dass der Antrag für den streitigen Zeitraum nicht wirksam gestellt worden sei. Der Kläger hatte im August einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB XII gestellt, wobei das Jobcenter diesen Antrag auf Grundsicherungsleistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII hätte weiterleiten müssen. Auch wenn dies nicht erfolgt war, sah das BSG den Antrag als wirksam gestellt an, da die entscheidenden Voraussetzungen vorlagen und der Antrag im Machtbereich des Beklagten eingegangen war.
Der Antrag auf Mehrbedarf gemäß § 30 Abs. 1 Nr. 2 SGB XII kann zudem gemäß § 44 Abs. 2 Satz 1 SGB XII rückwirkend auf den Ersten des Monats gestellt werden, in dem die Voraussetzungen der Grundsicherung vorliegen. Diese rückwirkende Wirkung trat im vorliegenden Fall somit ab September ein.
Zusammenfassung und Auswirkungen
Das Urteil des BSG stellt klar, dass bei einer rückwirkenden Feststellung der vollen Erwerbsminderung der Anspruch auf Mehrbedarf ebenfalls rückwirkend ab dem Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsminderung besteht. Dies gilt unabhängig vom Zeitpunkt der Bescheiderteilung durch den Rentenversicherungsträger.
Damit wird betroffenen Personen die Möglichkeit ermöglicht, auch nachträglich Ansprüche geltend zu machen, wenn sich die Voraussetzungen ihrer Bedürftigkeit ändern. Insbesondere bei Anträgen auf Sozialleistungen muss sichergestellt werden, dass diese umfassend geprüft und gegebenenfalls rückwirkend angepasst werden.
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Carolin-Jana Klose ist seit 2023 Autorin bei Gegen-Hartz.de. Carolin hat Pädagogik und Sportmedizin studiert und ist hauptberuflich in der Gesundheitsprävention und im Reha-Sport für Menschen mit Schwerbehinderungen tätig. Ihre Expertise liegt im Sozialrecht und Gesundheitsprävention. Sie ist aktiv in der Erwerbslosenberatung und Behindertenberatung.