Das deutsche Sozialrecht ist das Fundament für existenzielle Leistungen wie Gesundheitsversorgung, Rente, Pflege- und Grundsicherung.
Doch immer häufiger klafft zwischen der Anzahl der Sozialrechtsanwälten und der Zahl der Menschen, die sie juristisch vertreten können, eine alarmierende Lücke. Die aktuellen Statistiken und Stimmen aus der Justiz zeichnen ein Bild, das einen sozialen Rechtsstaat ins Wanken bringen könnte.
Wie dramatisch ist der Schwund an Fachanwälten für Sozialrecht?
Zum 1. Januar 2025 verzeichnete die Bundesrechtsanwaltskammer nur noch 1 619 Fachanwälte für Sozialrecht – 2,88 Prozent weniger als im Vorjahr.
Während insgesamt 46 148 Fachanwaltstitel gezählt wurden, liegt das Sozialrecht damit am unteren Ende der Rangliste; Arbeitsrecht, Familien- und Steuerrecht sind jeweils um ein Mehrfaches stärker besetzt.
In Relation zu gut 166 000 zugelassenen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten sind nicht einmal 1 Prozent im Sozialrecht spezialisiert.
Was bedeutet das für die Arbeit des Bundessozialgerichts?
Das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel kann seine Leitfunktion nur erfüllen, wenn genügend Verfahren bis zur Revisionsinstanz gelangen. Präsidentin Christine Fuchsloch berichtete in ihrem ersten Jahresbericht über 2 523 neu eingegangene Verfahren – eine erfreuliche Stagnation nach Jahren rückläufiger Zahlen.
Doch fast 600 Rechtssuchende beantragten Prozesskostenhilfe samt Beiordnung eines Anwalts, weil sie keinen Vertreter fanden. Die Bewilligung solcher Anträge werde „immer schwieriger“, warnt Fuchsloch.
Warum lohnt sich Sozialrecht für Anwälte wirtschaftlich kaum?
Schon Fuchslochs Vorgänger Rainer Schlegel klagte: „Um das Sozialrecht reißt sich niemand.“
Die Pauschal- und Betragsrahmengebühren nach dem RVG begrenzen das Honorar; in vielen Bereichen – etwa im Bürgergeldrecht – verbietet das Gesetz jede Honorarvereinbarung.
Bei häufig einkommensschwachen Mandanten, hohem Verwaltungsaufwand und langen Bearbeitungszeiten bleibt der Ertrag oft unter Kostendeckung. Für junge Juristinnen und Juristen, die Studienkredite abbezahlen oder eine Kanzlei aufbauen, ist das ein klares Negativ-Signal.
Verliert das Sozialrecht auch an den Universitäten Terrain?
Zu wenige Lehrstühle, kaum Nachwuchs-Professuren und immer öfter nur Honorarprofessuren aus der Richterschaft – so schildert es der frühere BSG-Präsident Schlegel.
Wenn Forschung und Lehre wegbrechen, sinkt die Sichtbarkeit des Fachs, und weniger Studierende wählen es als Schwerpunkt. Die Spirale verstärkt sich: ohne breites Lehrangebot keine Nachfrage, ohne Nachfrage kein Grund zur Wiederbesetzung von Lehrstühlen.
Aktuelle Sozialpolitik
Können Gewerkschaften und Sozialverbände die Lücke schließen?
Verbände wie der VdK, der SoVD oder die Rechtsschutzstellen der DGB-Gewerkschaften bilden zwar eine wichtige zweite Säule der Prozessvertretung.
Doch auch sie spüren den Fachkräftemangel, und ihre Kapazitäten reichen nicht, um flächendeckend alle Verfahren zu übernehmen. Fuchsloch warnt ausdrücklich, dass dieser Ersatz „nicht genüge, dauerhaft den Mangel in der Anwaltschaft auszugleichen“.
Welche Folgen hat die Misere für Bürgerinnen und Bürger?
Wer einen ablehnenden Bescheid vom Jobcenter oder der Rentenversicherung erhält, steht ohnehin oft unter finanziellem Druck. Findet sich kein Anwalt, bleibt nur die Selbstvertretung – bei 18 Gesetzbüchern (SGB I bis XIV, dazu Spezialgesetze) eine fast unlösbare Aufgabe.
Fehlende anwaltliche Expertise erhöht das Risiko, berechtigte Ansprüche zu verlieren, verlängert Verfahren und belastet die Gerichte mit unzureichend vorbereiteten Klagen.
Was wäre nötig, um die Attraktivität des Fachgebiets zu steigern?
Eine Reform des Vergütungssystems erscheint unausweichlich. Höhere Gebührentatbestände oder zumindest die Möglichkeit, bei komplexen Verfahren angemessene Honorarvereinbarungen zu treffen, könnten wirtschaftliche Anreize setzen.
Parallel braucht es mehr universitäre Lehrstühle, geförderte Schwerpunktprogramme und ein verlässliches Angebot an Fachfortbildungen. Nur wenn der Karrierepfad finanziell und akademisch trägt, wird sich der Nachwuchs wieder für das Sozialrecht begeistern.
Wohin steuert der Soziale Rechtsstaat ohne starke Anwaltschaft?
Ein Sozialstaat lebt nicht allein von Leistungsversprechen, sondern von ihrer rechtlichen Durchsetzbarkeit. Sinkt die Zahl der fachkundigen Vertreter weiter, wird das Gleichgewicht zwischen mächtigen Sozialbehörden und hilfesuchenden Bürgerinnen und Bürgern fragil.
Die Mahnungen aus Kassel sind deshalb mehr als Standespolitik – sie sind ein Frühwarnsystem für die rechtsstaatliche Funktionsfähigkeit in einem Bereich gesellschaftlicher Solidarität.