Die Sondierungen sind beendet, der Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD liegt vor. Damit hat die Bundesrepublik erstmals seit Jahren eine Regierungskonstellation, die das Thema Pflege ganz oben auf die politische Agenda setzt. Was genau plant die neue Bundesregierung, welches Zeitfenster ist gesetzt – und welche Auswirkungen könnten die Vorhaben auf Pflegebedürftige, Angehörige, Einrichtungen und Beschäftigte haben?
Inhaltsverzeichnis
Warum drängt eine umfassende Pflegereform jetzt besonders?
Trotz mehrerer Reformschritte in den Jahren 2015, 2017 und 2023 stehen die Pflegeversicherung und das Versorgungssystem weiterhin unter hohem Druck.
Die alternde Bevölkerung, ein sich verschärfender Fachkräftemangel, steigende Eigenanteile und die wachsende Zahl demenziell erkrankter Menschen zwingen die Politik zum Handeln.
Der Koalitionsvertrag erkennt dieses Spannungsfeld ausdrücklich an und kündigt eine „tiefgreifende strukturelle Pflegereform“ an, deren Eckpunkte bis Frühjahr 2027 in Gesetzesform gegossen sein sollen. Bis Ende 2025 soll zunächst eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe sämtliche Leistungen evaluieren und Finanzierungsoptionen durchrechnen.
Wie soll die Pflegeversicherung langfristig finanzierbar bleiben?
Das Kernversprechen der Koalition lautet, das Umlageverfahren der sozialen Pflegeversicherung zukunftsfest zu machen. Angehoben werden soll dafür sowohl der Bundeszuschuss als auch – moderat und unter sozialen Staffelungen – der Beitragssatz.
Gleichzeitig prüft die Arbeitsgruppe Varianten einer „Teilkostendeckung“ durch Steuermittel, um die versicherungsfremden Leistungen etwa für Kinderlose gerechter zu verteilen. Konkrete Summen nennt der Vertrag noch nicht.
Brisant ist jedoch der Zeitplan: Schon im Haushaltsjahr 2026 soll erstmals eine neue Mischfinanzierung greifen, damit die eigentliche Reform 2027 nicht bereits auf Sand gebaut ist.
Welche Entlastungen sind für pflegende Angehörige vorgesehen?
Rund 80 Prozent der Pflegebedürftigen werden zuhause betreut – meist von Familienmitgliedern. Die Koalition anerkennt diese stille Leistung als „tragende Säule des Systems“ und will sie systematisch stärken.
Wesentlicher Hebel ist die geplante Zusammenführung des Pflegezeit- und Familienpflegezeitgesetzes zu einem einzigen, flexibleren Rechtsrahmen. Vorgesehen ist, den Kreis der Anspruchsberechtigten deutlich auszuweiten, damit künftig auch nicht verwandte, aber nahestehende Personen freigestellt werden können.
Begleitet werden soll die Reform von einem Familienpflegegeld, das sich am Elterngeld orientiert und als Lohnersatzleistung einen substanziellen Teil des Gehalts kompensiert.
Offen ist, welche Einkommens- oder Zeitgrenzen gelten sollen. Klar ist jedoch: Ohne diese finanzielle Brücke drohen viele Angehörige zwischen Teilzeit, Pflege und eigener Existenzsicherung zerrieben zu werden.
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Welche Verbesserungen verspricht die Fortführung der Nationalen Demenzstrategie?
Demenz gilt als die Wachstumsdiagnose der kommenden Jahrzehnte. Die Koalition plant, die 2020 gestartete Nationale Demenzstrategie auszubauen. Vorgesehen sind niedrigschwellige Beratungs- und Entlastungsangebote, spezifische Schulungen für pflegende Angehörige sowie eine engere Verzahnung von medizinischer und pflegerischer Versorgung.
Darüber hinaus soll die Versorgungsforschung stärker gefördert werden, um regionale Unterschiede sichtbar zu machen und innovative Wohn- und Betreuungskonzepte zu entwickeln. Ein besonderes Augenmerk liegt auf dem ländlichen Raum, wo Pflegedienste und Tagespflegeplätze bereits heute knapp sind.
Welche Leistungen stehen nun konkret auf dem Prüfstand?
Die Bund-Länder-Runde erhält den Auftrag, jedes einzelne Leistungsmodul der Pflegeversicherung zu analysieren: vom Pflegegeld über die Kurzzeit- und Verhinderungspflege bis hin zu teilstationären Angeboten.
Ziel ist es, Doppelstrukturen abzubauen, Überschneidungen zu beseitigen und Leistungen klarer zu bündeln. Gleichzeitig sollen Lücken geschlossen werden, die sich in akuten Pflegesituationen immer wieder zeigen – etwa wenn plötzlich nach einem Krankenhausaufenthalt kein Kurzzeitpflegeplatz zu finden ist.
Spezielle Module für Menschen mit Demenz, die bisher nur indirekt berücksichtigt werden, könnten künftig deutlicher konturiert werden.
Wie will die Regierung die Grenze zwischen ambulanter und stationärer Pflege überwinden?
Bislang ist die Trennung strikt: Wer zuhause lebt, erhält andere Leistungen als jemand im Heim. Das erschwert innovative Wohnformen – zum Beispiel Wohngruppen, denen ein Pflegedienst stundenweise zur Seite steht, oder sogenannte stambulante Modelle, bei denen ambulante und stationäre Elemente verschmelzen.
Die neue Merz-Koalition will diese Barriere beseitigen, sodass Leistungsansprüche künftig am individuellen Bedarf statt am Wohnort ausgerichtet werden.
Damit nähert sich Deutschland Konzepten an, die in Skandinavien bereits erprobt sind. Für Betroffene könnte das mehr Wahlfreiheit bedeuten, für Kommunen und Träger allerdings auch neue Abrechnungs- und Koordinierungsaufgaben.
Was bedeutet die geplante Begrenzung der Eigenanteile?
Pflegeheimbewohner zahlen in Deutschland zu den pflegebedingten Aufwendungen auch Investitions-, Unterkunfts- und Verpflegungskosten. Trotz des 2022 eingeführten Leistungszuschusses steigen die Eigenanteile weiter.
Der Koalitionsvertrag kündigt nun eine „wirksame Begrenzung“ an, nennt jedoch weder Höhe noch Mechanismus.
Ob eine absolute Deckelung oder eine dynamische Kopplung an die Einkommenssituation kommt, bleibt abzuwarten. Klar ist: Ohne flankierende Maßnahmen auf Länderebene – etwa bei den Investitionskosten – könnte der Bund an dieser Stelle nur begrenzt eingreifen.
Auf welchem Fundament sollen Pflegekräfte künftig arbeiten?
Ohne Personal bleibt jede Strukturreform Makulatur. Deshalb setzt die Koalition auf drei Stellschrauben: erstens eine akademische Weiterqualifikation hin zur Advanced Practice Nurse, die erweitert diagnostizieren und behandeln darf; zweitens eine bundesweit einheitliche, aufgewertete Ausbildung für Pflegeassistenzen, die Fachkräfte entlasten soll; drittens Maßnahmen gegen die tiefe Kluft zwischen Leiharbeits- und Stammbelegschaften.
Angelehnt an das Pflegekompetenz- und das Pflegefachassistenzgesetz der Vorgängerregierung will das Bündnis noch 2025 Eckpunkte vorlegen. Besonders beachtet wird dabei die Refinanzierung – denn bessere Löhne, mehr Mitsprache und verlässliche Dienstpläne kosten Geld, das bislang nur teilweise in den Pflegesätzen abgebildet ist.
Welcher Zeitplan gilt nun bis 2027?
Die Koalition gliedert ihr Großprojekt in drei Phasen. Bis Ende 2025 legt die Bund-Länder-Arbeitsgruppe einen Katalog konkreter Reformoptionen vor, flankiert von ersten Gesetzesentwürfen zur Familienpflegezeit und zum Pflegegeld. 2026 folgt eine finanzielle Zwischenlösung, um die Kassen der Pflegeversicherung zu stabilisieren.
Spätestens Frühjahr 2027 sollen dann das große Strukturgesetz und die begleitenden Verordnungen verabschiedet sein. Ob dieser Fahrplan hält, hängt nicht zuletzt davon ab, wie schnell sich Bund, Länder und Sozialpartner auf die Finanzierung verständigen.
Wohin führt der Weg – ein Zwischenfazit unserer Reaktion
Selten hat ein Koalitionsvertrag die Pflege mit derart vielen Ankündigungen bedacht. Doch der Abstand zwischen Papier und Praxis ist traditionell groß. Die vorgesehene Entlastung für Angehörige, die offensivere Demenzpolitik und die Öffnung der Versorgungsgrenzen versprechen spürbare Verbesserungen.
Entscheidend wird sein, ob die Reform finanziell hinterlegt und personell abgesichert wird. Gelingt das, könnte Deutschland tatsächlich einen Systemwechsel einleiten – weg von der Notverwaltung des Mangels, hin zu einer Pflege, die Wahlfreiheit und Qualität miteinander versöhnt. Bis dahin bleibt viel Arbeit, aber erstmals seit Langem auch realistische Hoffnung auf nachhaltige Veränderungen.