Das Hartz IV-Urteil: Im Westen nichts Neues

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Das Hartz IV-Urteil: Im Westen nichts Neues
Kommentar von Norbert Hermann
Gerne hätten wir den Menschen in den verschiedenen Grundsicherungssystemen gewünscht, dass sie etwas mehr Geld in die Tasche bekämen. Ungerne hätten wir einen neuerlichen Beweis für eine instrumentalisierte „Klassenjustiz“ erhalten. Beides ist nicht eingetreten, die Welt ist so (schlecht) geblieben wie sie immer schon war. Allerdings wurde die Glocke geschlagen für eine harte Runde im Verteilungskampf. Natürlich ist es nichts weniger als gerecht, daß nach nunmehr fünf Jahren von Anbeginn an beklagte Zustände endlich korrigiert werden. Zum Himmel schreiend, dass es nicht umgehend geschah. „Sozialstaat“ verpflichtet zur Bedarfsdeckung, „Rechtsstaat“ meint vor allem „Willkürverbot“ – nach dem Verlust des Sozialstaatsdenkens sahen wir auch den Rechtsstaat schwinden (und sehen es immer noch so).

Ob unter dem Strich jetzt mehr herauskommt? Das ist noch völlig offen. Auch diesmal hat das Bundesverfassungsgericht sich nicht zur Leistungshöhe geäußert, sondern der Gesetzgebung einen großen Spielraum oberhalb des „physischen Existenzminimums“ eingeräumt: verhungern darf hier keiner, alles andere bleibt offen. Es ist damit seiner jahrzehntelangen Linie treu geblieben – um die für ein würdevolles Leben notwendige Leistungshöhe wurde in der Vergangenheit schon mehrfach vergeblich gestritten. Bei der „unantastbaren Würde“ des Grundgesetzes handelt es sich um sog. „abstraktes Recht“ (zu deutsch: dafür kannst Du dir nichts kaufen“), konkret in Zahlen umsetzen muss/darf es die Gesetzgebung.

Spannend wird es erst, wenn der 2. Artikel des Grundgesetzes hinzu genommen wird. Er schützt das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, das Recht auf Leben und die körperliche Unversehrtheit. Wobei die Medizin unter „körperlicher Unversehrtheit“ heute auch die psychische Gesundheit einbezieht.

Das erfordert eine Leistung immer über der Schwelle absoluter Armut – das „soziokulturelle Existenzminimum“. Welche materiellen Voraussetzungen dazu notwendig sind ist und war immer Wandlungen unterworfen. Vorstellungen eines „guten Lebens“ ohne materielle Not sind den Sozialutopien vorbehalten und finden sich heute in Forderungen nach einem „bedingungslosen Grundeinkommen“.

Höchstrichterlich festgestellt ist aber auch ein Ausgrenzungsverbot – Hilfeberechtigte sollen „in der Umgebung von Nicht-Hilfeempfängern ähnlich wie diese leben können“. Umstritten ist, ob das Postulat „gleichwertiger Lebensverhältnisse" des Art. 72 GG auch die Vermeidung eines sozialen Abdriftens ganzer Orte, Landstriche und Bevölkerungsteile erfordert.

So ist der Streit um die Höhe der Zahlungen durchaus auch verfassungsrechtlich relevant, im Wesentlichen muss er aber auf der gesellschaftlichen Ebene ausgetragen werden. Da geht es natürlich schon los – Westerwelle vorneweg. Einhaltung des „Lohnabstandsgebotes“ fordert er für die Kellnerin. Auch dieses Spannungsverhältnis zwischen niedrigen Löhnen und dem Bedarfsdeckungsprinzip des Grundgesetzes ist seit mehr als 30 Jahren immer wieder Streitgegenstand.

Dabei ist es so einfach: „Der Lohn muss der Leistung entsprechen und den angemessenen Lebensbedarf des Arbeitenden und seiner Familie decken.“ fordert Art. 24 der NRW-Verfassung. Das ist schon lange nicht mehr der Fall. Von Kindergeld und Wohngeld steht da nichts, das ist gedacht für „Extras“. Mindestlöhne müssen her, wohl verbunden mit einem ordentlichen Lastenausgleich für die familiäre Situation. Für Mindestlöhne tritt sogar LIDL jetzt ein –fehlt noch, dass auch KiK dazu kommt.

Auch ohne Arbeit muss mensch leben können. In Anbetracht zunehmend gebrochener und präkarisierter Arbeitsbiographien ist die gewerkschaftliche Forderung nach Anerkennung der Beitragszeiten hier wenig hilfreich – die Summe der Beiträge ist schließlich schnell verfrühstückt, das Risiko von Erwerbslosigkeit ist versicherungstechnisch nicht zu fassen. Und junge Menschen zu Beginn eines Arbeits- und Familienlebens schlechter zu stellen als ältere, die heutzutage (noch) oftmals „ihr Schäfchen im Trockenen“ haben, ist „Generationenkonflikt“ pur.

Westerwelle streitet um den Anteil am Kuchen für ihn und seinesgleichen. Am Rande zwischen „oben“ und „ganz oben“. Das für die Bevölkerung zur Verteilung ausgegebene Kuchenstück (einschließlich des „Schmerzensgeldes“ für ARGE-Mitarbeitende und der Bestechungsgelder für jene, die weggucken oder gar mitorganisieren) ist in den letzten Jahrzehnten geschrumpft – die Betroffenen balgen sich untereinander um Anteile an den Krumen. Das ist schade. So verschlafen sie, daß in diesem Jahr mit Mehrwertsteuererhöhung, Lohnsenkungen, Kopfpauschale, Rentenkürzung, Regelsatzbegrenzung … die weitgehende „Verharzung“ der Gesellschaft durchgesetzt werden soll. Die Forderung nach einem guten Mindestlohn für gute Arbeit und eine ausreichende Grundsicherung ohne Sanktionen (und kaum Bedingungen) könnte alle zusammenbringen. (18.02.2010)

Ist das Bürgergeld besser als Hartz IV?

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