In vielen Situationen, in denen ein Schuldner von einer Pfändung oder einer Aufrechnung/Verrechnung betroffen ist, stellt sich die Frage, wie viel vom Einkommen tatsächlich pfändbar oder einbehaltbar ist, ohne dass die wirtschaftliche Existenz des Betroffenen gefährdet wird.
In diesen Fällen fällt immer wieder der Begriff des „sozialrechtlichen Existenzminimums“. Dahinter verbirgt sich jener Betrag, der dem Schuldner und seiner Familie mindestens verbleiben muss, damit sie ihren Lebensunterhalt bestreiten können.
Die Grundlage für die Ermittlung dieses Existenzminimums findet sich in den Sozialgesetzbüchern (SGB), insbesondere im Zweiten (SGB II) und Zwölften Buch (SGB XII). Je nachdem, ob der Schuldner erwerbsfähig ist oder nicht, werden die Bedarfe unterschiedlich berechnet.
Entsprechend gibt es zwei unterschiedliche Bescheinigungen, die sogenannte SGB II-Garantiebescheinigung (für Erwerbsfähige) und die SGB XII-Bescheinigung (für nicht Erwerbsfähige). Die folgenden Erläuterungen geben einen vertieften Einblick in die jeweiligen Fallgestaltungen und die Rechtslage.
Inhaltsverzeichnis
Welche Regelungen greifen bei einer Pfändung in den Vorrechtsbereich nach § 850d ZPO?
Bei Unterhaltsverpflichtungen oder bei Rückständen aus Unterhaltsansprüchen hat der Gesetzgeber im Interesse der unterhaltsberechtigten Person(en) einen sogenannten Vorrechtsbereich geschaffen. Dieser ermöglicht es, die üblichen Pfändungsfreigrenzen zu durchbrechen und in größere Teile des Einkommens des Unterhaltspflichtigen zu vollstrecken.
- Rechtsgrundlage: § 850d ZPO
- Anwendungsfälle: Laufende Unterhaltsansprüche und Unterhaltsrückstände (mindestens aus dem letzten Jahr)
Wichtig ist, dass das Vollstreckungsgericht den „notwendigen Lebensunterhalt“ des Schuldners festlegt, also jenes Minimum, das ihm nicht gepfändet werden darf. Dabei gelten grundsätzlich weder die Pfändungstabelle noch der sogenannte unterhaltsrechtliche Selbstbehalt (z.B. nach der Düsseldorfer Tabelle), sondern stattdessen eine individuelle Festsetzung.
Nach welchen Kriterien wird der „notwendige Lebensunterhalt“ ermittelt?
Strittig ist, ob sich die Berechnung des unpfändbaren Einkommens nach den Regelungen des SGB II oder des SGB XII richtet.
- Meinung A (Teile der Literatur und LG Darmstadt): Für erwerbsfähige Schuldner sollte sich der notwendige Lebensunterhalt an den Regelungen des SGB II ausrichten.
- Meinung B (BGH-Rechtsprechung): Generell wird (auch bei Erwerbsfähigen) auf den notwendigen Lebensunterhalt im Sinne des 3. und 11. Kapitels des SGB XII abgestellt.
Was ist bei der Beratung von Unterhaltspflichtigen zu beachten?
Unterhaltsverpflichtete, deren Einkommen oder Kontoguthaben nach § 850d ZPO bzw. §§ 906 Abs. 1 i.V.m. 850d ZPO gepfändet werden, sollten stets prüfen (lassen), ob der vom Gericht festgelegte unpfändbare Betrag dem sozialhilferechtlichen Existenzminimum entspricht.
Oft wird dieser Betrag vom Gericht nur grob geschätzt. Stellt sich heraus, dass er zu niedrig bemessen ist, kann bzw. sollte ein entsprechender Antrag auf Schuldnerschutz gemäß § 850f Abs. 1 Nr. 1 ZPO gestellt oder Erinnerung nach § 766 ZPO eingelegt werden. So lässt sich der „notwendige Lebensunterhalt“ auf das realistische Mindestmaß anheben.
In welchen Fällen greift § 850f Abs. 2 ZPO und was müssen Deliktsopfer beachten?
Eine vergleichbare Sonderstellung wie die Unterhaltsansprüche genießt auch der Schadensersatzanspruch aufgrund vorsätzlich begangener unerlaubter Handlungen. In diesem Fall können Geschädigte ebenfalls in den sogenannten Vorrechtsbereich vollstrecken.
- Rechtsgrundlage: § 850f Abs. 2 ZPO
- Voraussetzung: Das Urteil oder der Vollstreckungstitel muss den vorsätzlichen Deliktshintergrund ausdrücklich ausweisen (bloße Vollstreckungsbescheide ohne Schlüssigkeitsprüfung reichen nicht aus).
Hier ist das Vollstreckungsgericht verpflichtet, von Amts wegen den notwendigen Lebensunterhalt des Schuldners zu bestimmen.
Zusätzlich muss sichergestellt werden, dass der Schuldner aus dem verbleibenden Einkommen noch seine gesetzlichen Unterhaltspflichten erfüllen kann. Die Unterhaltsberechtigten sind in der Rangfolge also höher gestellt als das Deliktsopfer.
Wie wird der notwendige Lebensunterhalt bei § 850f Abs. 2 ZPO berechnet?
Analog zu § 850d ZPO stellt sich erneut die Frage: SGB II (bei Erwerbsfähigkeit) oder SGB XII (bei Nicht-Erwerbsfähigkeit)?
- BGH und Zöller/Herget: Setzen auch hier pauschal auf den notwendigen Lebensunterhalt nach SGB XII.
- LG Frankfurt: Plädiert für eine Differenzierung nach erwerbsfähigen und nicht erwerbsfähigen Schuldnern, was systemkonform wäre.
Warum sind die SGB XII-Bescheinigung wichtig?
Die SGB XII-Bescheinigung hilft vor allem nicht erwerbsfähigen Schuldnern (z.B. Rentnern, Empfängern voller Erwerbsminderungsrente), ihren unpfändbaren Bedarf geltend zu machen.
Bei Erwerbsfähigen empfiehlt sich demgegenüber, mit einer SGB II-Bescheinigung den notwendigen Bedarf zu belegen. Auch hier kann – falls das Gericht zu niedrige Werte veranschlagt – ein Antrag auf Schuldnerschutz nach § 850f Abs. 1 Nr. 1 ZPO bzw. eine Erinnerung nach § 766 ZPO sinnvoll sein.
Was passiert bei einer Aufrechnung/Verrechnung von Sozialleistungen bis zur Hälfte?
Kommt es zur Aufrechnung bzw. Verrechnung von Sozialleistungen (z.B. Bürgergeld, Grundsicherung, Sozialhilfe), dürfen bestimmte öffentliche Stellen – beispielsweise bei rückständigen SGB-Beiträgen – bis zur Hälfte der fälligen Leistung einbehalten. Rechtsgrundlage dafür sind die §§ 51 Abs. 2 und 52 SGB I.
Allerdings sind die Behörden verpflichtet, die wirtschaftliche Existenz des Betroffenen zu beachten. Wird durch die Einbehaltung der hälftigen Sozialleistung das Existenzminimum unterschritten, ist der Sozialleistungsträger verpflichtet, nach einer entsprechenden Glaubhaftmachung durch den Schuldner die Aufrechnung zu verringern oder ganz davon abzusehen.
Welche Pflichten treffen den Schuldner?
Seit 2005 liegt die Beweislast beim Leistungsbezieher. Das bedeutet konkret: Er muss aktiv nachweisen, dass er durch die Aufrechnung in existenzielle Schwierigkeiten gerät. Ist kein aktueller Sozialhilfe- oder Bürgergeld-Bescheid vorhanden, kann auch hier eine SGB II- oder SGB XII-Bedarfsbescheinigung herangezogen werden. Hinzu kommt der Nachweis, dass kein verwertbares Vermögen vorliegt (z.B. durch eine kürzlich abgegebene Vermögensauskunft oder eine Insolvenzbescheinigung).
Können Nachzahlungen rückwirkend geschützt werden?
Nein. Bei rückwirkenden Nachzahlungen (z.B. Nachzahlungen von Sozialrente oder Krankengeld) kann die Hälfte einbehalten werden, da sich eine nachträgliche Hilfebedürftigkeit nicht mehr im Nachhinein geltend machen lässt.
Warum zwei verschiedene Bescheinigungen?
Der wesentliche Grund liegt in der Frage, ob der Schuldner erwerbsfähig oder nicht erwerbsfähig ist. Grundsätzlich regelt das SGB II („Bürgergeld“) den Mindestbedarf erwerbsfähiger Menschen, während das SGB XII („Sozialhilfe“) den Mindestbedarf nicht erwerbsfähiger Personen – etwa Rentner oder dauerhaft Erkrankte – zum Maßstab nimmt. Dennoch sind viele Bedarfspositionen und Pauschalen in beiden Systemen deckungsgleich oder zumindest sehr ähnlich.
Welche Abweichungen bestehen bei den Absetzbeträgen?
- SGB II:
- Pauschale Grundabsetzbeträge von 100 EUR für Versicherungen, Altersvorsorge und Werbungskosten.
- Stufenweise Anrechnung von Erwerbseinkommen (20 % bei Brutto bis 520 EUR, 30 % zwischen 520 und 1.000 EUR, 10 % über 1.000 bis max. 1.200/1.500 EUR).
- Dadurch können sich insgesamt höhere Absetzbeträge von bis zu 348 bzw. 378 EUR ergeben (inkl. 100 EUR-Pauschale).
- SGB XII:
- Keine pauschalen 100 EUR für Versicherungen, Altersvorsorge und Werbungskosten – jeder Posten muss einzeln nachgewiesen werden.
- 30 % des Erwerbseinkommens (gedeckelt auf die Hälfte der Regelbedarfsstufe 1).
- Pauschale Arbeitsmittelpauschale von 5,20 EUR.
Weiterhin existieren in beiden Bescheinigungen Regelungen zum „unabweisbaren Sonderbedarf“ und zum „Mehrbedarf für Anschaffung/Ausleihe notwendiger Schulbücher/Arbeitshefte“ (einschließlich digitaler Endgeräte).
Besondere Fälle: Rente und zusätzliche Altersvorsorge
- SGB II und SGB XII:
- Für eine Rente aus langjähriger Versicherung nach mindestens 33 Jahren Grundrentenzeiten ist ein Absetzbetrag vorgesehen (vgl. § 82a SGB XII bzw. § 11b Abs. 2a SGB II).
- Nur SGB XII:
- Zusätzliche Altersvorsorge, etwa per Betriebsrente oder RIESTER-Vertrag, kann hier gesondert abgesetzt werden (§ 82 Abs. 4 und 5 SGB XII).
Wie erfolgt der praktische Nachweis des Existenzminimums und welche Musterbescheinigungen gibt es?
Warum sind Musterbescheinigungen in der Schuldnerberatung so wichtig?
In der täglichen Praxis der Schuldner- und Insolvenzberatung oder auch bei den Sozialleistungsträgern kommt es häufig vor, dass ein aktueller Bewilligungsbescheid nicht vorliegt oder dass der ermittelte Bedarf nachgerechnet werden muss. Hierbei bewähren sich die bundesweit verwendeten Musterbescheinigungen nach SGB II und SGB XII. Sie können helfen, dem Gericht oder dem Sozialleistungsträger nachvollziehbar darzulegen, dass dem Schuldner nur ein bestimmtes Einkommen zur Verfügung steht und dieses bereits das notwendige Minimum abbildet.
Wer stellt diese Bescheinigungen aus?
- SGB II-Garantiebescheinigung: Sollte idealerweise das örtliche Jobcenter ausstellen.
- SGB XII-Bescheinigung: Übernimmt das örtliche Sozialamt.
Kommt es zu einer Weigerung der Ämter, diese Serviceleistung zu erbringen, muss der Schuldner im Rahmen eines gerichtlichen Schuldnerschutzantrags den fiktiven Bedarf aus SGB II oder SGB XII selbst belegen. In diesem Fall ist es ratsam, die entsprechenden Formblätter und Excel-Rechentools zu verwenden, um sämtliche Positionen (Wohnkosten, Mehrbedarf, Versicherungen etc.) nachzuweisen.
Was ist bei der Wahrung des Existenzminimums zusammenfassend zu beachten?
- Recht auf Mindestbedarf: Jeder Schuldner muss nach Maßgabe des Sozialrechts über einen Betrag verfügen können, der seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie sicherstellt.
- Unterschiedliche Rechtsgrundlagen: Je nach Konstellation (Unterhaltspfändung nach § 850d ZPO, Deliktspfändung nach § 850f Abs. 2 ZPO, Aufrechnung von Sozialleistungen bis zur Hälfte usw.) greifen jeweils besondere Regelungen.
- SGB II vs. SGB XII: Ob der Schuldner erwerbsfähig ist oder nicht, bestimmt häufig, ob er sein Existenzminimum nach SGB II oder SGB XII bemessen lassen muss.
- Aktives Handeln erforderlich: Schuldner oder deren Berater müssen gegebenenfalls selbst initiativ werden (Antrag auf Schuldnerschutz, Erinnerung gegen den Pfändungsbeschluss, Vorlage von Bescheinigungen).
- Musterbescheinigungen: Die bewährten, aktuell gehaltenen Formulare für die SGB II- und die SGB XII-Bescheinigung können entscheidend helfen, den notwendigen Lebensunterhalt präzise zu beziffern.
Für die praktische Umsetzung stehen diese Bescheinigungen sowie entsprechende Excel-Dateien (mit Rechenfunktionen) seit dem 01.01.2025 zur Verfügung:
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Dr. Utz Anhalt ist Buchautor, Publizist, Sozialrechtsexperte und Historiker. 2000 schloss er ein Magister Artium (M.A.) in Geschichte und Politik an der Universität Hannover ab. Seine Schwerpunkte liegen im Sozialrecht und Sozialpolitik. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Dokumentationen für ZDF , History Channel, Pro7, NTV, MTV, Sat1.