UN-Bericht: Hartz IV verhindert keine Armut

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07.07.2011

Der aktuelle Bericht der Vereinten Nationen nimmt das Deutsche Sozialsystem in die Mangel. So steht dort unter anderem, dass Hartz IV keinen „angemessenen Lebensstandard“ gewährt und das Auftreten von Armut nicht verhindert.

Der aktuelle UN-Bericht kritisiert das Sozialsystem in Deutschland. Der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte zeigte sich zu tiefst besorgt, da zahlreiche bereits beanstandete Missstände nicht beseitigt und Empfehlungen der UN nicht umgesetzt wurden. Zum Beispiel sind aus Sicht der UN „konkrete Maßnahmen notwendig, damit Kinder aus besonders armen Familien ausreichende Mahlzeiten erhalten.“ Laut einer Studie geht jedes vierte Kind ohne Frühstück in die Schule. Scharfe Kritik äußerten der UN-Ausschuss auch an dem Grundsicherungssystem. Beziehern der Grundsicherung, Sozialhilfe und Hartz IV werde auf diese Weise kein „angemessener Lebensstandard” gewährt. Zudem zeigte man sich besorgt darüber, dass die reale Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern deutlich höher ist, als in Westdeutschland. Demnach ist die Erwerbslosenquote im Osten doppelt so hoch wie im Westen.

Bundesregierung weist UN-Kritik zurück
Die schwarz-gelbe Bundesregierung will von der Kritik nichts hören und weist jegliche Verantwortlichkeit von sich. “Die Kritik im vorläufigen Bericht des UN-Unterausschusses ist in weiten Teilen nicht nachvollziehbar und auch nicht durch wissenschaftliche Fakten belegt”, so der der Pressesprecher des Bundesarbeitsministeriums in Berlin. Man wolle zu einem späteren Zeitpunkt auf die Vorwürfe eingehen, bedauere aber, dass der UN-Bericht kaum mit Fakten dient.

Armuts-Tüv gefordert
Der Vorsitzende der LINKEN, Klaus Ernst, forderte nach Bekanntwerden der UN-Kritik an der deutschen Sozialpolitik einen „Armuts-TÜV“ für die Sozialsysteme einzuführen. „Der Bericht der UN ist ein beschämendes Dokument des Scheiterns aller Regierungen seit der Wiedervereinigung. Wenn per Gesetz Löhne, Renten und Sozialleistungen gekürzt werden, dann darf sich niemand wundern, wenn die Armut grassiert.“ Ernst forderte die Bundesregierung auf, alle Sozialsysteme auf den Prüfstand zu stellen. Ein sogenannter „Armuts-TÜV“ soll ermitteln, ob die jeweiligen Sozialleistungen ein Auftreten von Armut verhindern können oder sogar zu einer noch größeren Armut führen. Zudem benötige man endlich einen flächendeckenden Mindestlohn sowie eine verfassungskonforme Mindestsicherung für Erwerbslose und eine gesetzliche Mindestrente für Rentner.

Erwerbslosen Gruppe zeigt sich empört und macht auf die Regelsatz-Klage aufmerksam
Da die offensichtlich unbelehrbare CDU-Bundessozialministerin von der Leyen die „tief besorgte“, wiederholte Kritik des neuesten Staatenberichts der Vereinten Nationen an Deutschlands sozialen Missständen wieder einmal nur „nicht nachvollziehbar“ findet, wird es endlich höchste Zeit, dass ihr das Bundesverfassungsgericht noch einmal nachdrücklicher klar macht, welche Verantwortung sie hier endlich übernehmen muss,“ empört sich Hartz4-Plattform Sprecherin Brigitte Vallenthin. Die Initiative verweist auf aktuell drei laufende Verfahren die die Verfassungswidrigkeit der Umsetzug von Hartz IV anprangern. "Die von unserer Bürgerinitiative unterstützten Sozialgerichts-Klagen in drei Bundesländern betreffen die Höhe des Regelsatzes, die Sanktionen sowie das so genannte Bildungspaket – und zwar alle mit dem Antrag zur Vorlage und Überprüfung beim Bundesverfassungsgericht.“

Die Hartz IV-Regelsatz-Klage hat im vorgeschalteten Eilverfahren zu einem erschütternden Ergebnis geführt: Das Sozialgericht meinte, fast 12 % Unterschreitung des „menschenwürdigen Existenzminimums“ könne keine Notlage und damit Eilbedürftigkeit begründen. Die Klage basierte auf den verfassungsrechtlichen Bedenken von Prof. Dr. jur. Johannes Münder, Technische Universität Berlin, der von einer Mindest-Regelsatzhöhe von 412 € ausgeht. Für eine Chance auf eine zuvor ermittelte Regelsatzhöhe um 600 € sieht die Hartz4-Plattform inzwischen ebenso wenig Aussicht in Karlsruhe wie auch für die Anfechtung der EVS zugunsten einer Warenkorb-Methode. Denn dadurch dass der ehemalige Kläger beim Bundesverfassungsgericht die Weiterführung seiner Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zurück genommen hat, dürfte eine solche rechtliche Prüfung gleichzeitig gekippt sein. „Die Annahme, dass die Verfassungsrichter ihr eigenes Urteil vom 9 Februar 2010 dahingehend korrigieren würden, dürfte im Reich der Illusionen angesiedelt sein,“ resümiert Brigitte Vallenthin enttäuscht.

Der aktuelle Ablehnungsbeschluss des Sozialgerichts Hannover kommt zu dem Ergebnis:
„Höhere Leistungen könnten dem Antragsteller (…) allenfalls aufgrund einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, mit der die aktuelle Rechtslage für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt würde, zustehen.Eine solche Entscheidung liegt aber nicht vor. Das Gericht sieht sich auch nicht veranlasst, den Rechtsstreit auszusetzen und eine Entscheidung des BVerfG einzuholen.“ Das Verfahren befindet sich inzwischen in der Hauptsache-Klage der ersten Instanz beim Sozialgericht.

Die Sanktions-Klage gegen den § 31 SGB II – alter und neuer Fassung – wurde ebenfalls als Eilklage beim Sozialgericht eingereicht. Hier liegt nach Ansicht der Hartz4-Plattform zweifelsfrei eine Notlage vor – und zwar im Sinne des vom Bundesverfassungsgericht am 9. Februar 2010 verkündeten Grundrechts auf unanfechtbares „menschenwürdiges Existenzminimum“. Denn im Urteil der Verfassungsrichter heißt es:

„Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (…) sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind. Dieses Grundrecht (…) hat (…) neben dem absolut wirkenden Anspruch (…) auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung . Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden (…).“

Der verfassungsrechtlich Anspruch an die Festlegungen „unerlässlich“ und „unverfügbar“ sowie das „Muss“ an eine „Einlösung“ schließen nach Einschätzung der Hartz4-Plattform einen Eingriff in dieses Grundrecht durch die Hartz IV-Verwaltung zweifelsfrei aus. „Wir können uns nicht vorstellen, dass die Verfassungsrichter für den Hartz IV-Sanktions-Paragrafen-31 eine Ausnahme des verfassungsrechtlichen „Anspruchs“ bestätigen würden,“ so Brigitte Vallenthin.

Die Klage gegen das Bildungspaket erklärt sich schon fast alleine durch sein öffentliches Scheitern. Die Hartz4-Plattform empfindet es als Skandal, dass das neue Hartz IV-Gesetz nicht nur gegen die Vorgaben der Verfassungsrichter zur transparenten Ermittlung der Kinderregelsätze verstößt, sondern obendrein ihren individuellen Anspruch auf Bildung und Teilhabe vom Regelsatz abtrennt und auf Kosten der Steuerzahler zu einem stigmatisierenden, bürokratischen Monster aufbläht. „Es wundert deshalb nicht, dass diesen datenschutz- und verfassungsfeindlichen Hürdenlauf aus vielen guten Gründen nur Wenige auf sich nehmen können,“ stellt Brigitte Vallenthin fest. Die Eilklage zum so genannten Bildungspaket wird in Kürze eingereicht.

„Bei der UN-Menschenwürde-Kritik an Deutschland geht es nicht um „wissenschaftliche Fakten“ – mit deren Fehlen sich Ministerin von der Leyen rauszureden versucht -, es geht um reales, individuelles, täglich gelebtes Leiden in Deutschland,“ fasst die Hartz4-Plattform Sprecherin zusammen. „Ich schäme mich für eine Bundesregierung, die andernorts Menschenrechte einfordert aber gleichzeitig die am weltweiten Maßstab der Menschenwürde gemessenen und mit Besorgnis wiederholt geäußerten Missstände im eigenen Lande lapidar mit „nicht nachvollziehbar“ beiseite schiebt. Und ich bin enttäuscht von Richtern, die den Wert von 48 Euro mehr im Monat offenbar nur am Maßstab ihres eigenen Einkommens als „Peanuts“ messen. Wir erwarten, dass sich die Richter in Sachen Sanktionen und Bildungspaket bereits im Eilverfahren eher dem Maßstab des Bundesverfassungsgerichts sowie des weltweiten Maßstabs der Menschenwürde der Vereinten Nationen verpflichtet fühlen,“ hofft Brigitte Vallenthin. (pm, sb)

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Bild: pixelio.de / ger.hardt

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