Länger leben, trotz Hartz IV

Lesedauer 4 Minuten

Länger leben, trotz Hartz-IV: Wie soziale Notlagen in lebensgefährliche Situationen führen
von Joachim Weiss
Wenn Menschen mit psychosozialen Problemen so ausrasten, dass sie von Polizeibeamten in “Notwehr” erschossen werden, läuft es mir jedes Mal eiskalt den Rücken runter. So auch vergangene Woche, als die Nachricht von einer tödlichen Schießerei in einem Frankfurter Jobcenter durch die Presse ging. Der tiefere Grund meiner Gänsehaut ist ein persönliches Erlebnis vergleichbarer Art, das sich im Oktober 2007 zugetragen hat – glücklicherweise ohne tödlichen Ausgang. Doch der Verlauf und die Folgen jener Polizeiaktion liefern ein anschauliches Beispiel dafür, wie leicht man als Jobcenter-gestresster Hartz-IV-Bezieher in eine lebensgefährliche Lage geraten kann, wenn überforderte und/oder schlecht ausgebildete Polizeibeamte Menschen und Situationen falsch einschätzen und dabei einen Fall von Notwehrprovokation (“actio illicita in causa“) verursachen. Ein Erlebnisbericht in drei Teilen von Joachim Weiss, www.gegen-stimmen.de.

Teil I
Nur soviel zur Vorgeschichte: Ich bin Journalist und Sachbuchautor, seit 1983 selbstständig, und musste im Herbst 2005 Hartz-IV beantragen. Mein wichtigster Auftraggeber hatte sich über Nacht in einen Bertelsmann-Verlag verwandelt und mich auf hinterhältige Weise aus der Autorenliste gemobbt. Ich war erwerbs-, aber nicht arbeitslos, sondern arbeitete weiterhin an meinen Buchprojekten und war ständig auf der Suche nach einen neuen Verlag. Außerdem habe ich ein Thema entdeckt, über dass sich das Schreiben wirklich lohnt: Das beispiellose Chaos in deutschen Jobcentern, wo man Leute, die kein Geld haben, zynisch als “Kunden” bezeichnet. und herumschikaniert, als wären sie der letzte Dreck. Arbeitstitel: “Hartz-IV – Die Entstehungsgeschichte und Umsetzung einer menschenunwürdigen Sozialpolitik, an deren Erfindung mein letzter Auftraggeber, der ehemalige Nazi-Verlag Bertelsmann, maßgeblich mitgewirkt hat!” Aus dieser Einstellung habe ich nie ein Geheimnis gemacht und mich gegen alle rechtswidrigen Maßnahmen mit Widersprüchen und Klagen zur Wehr gesetzt. Doch dies, sowie der unglückliche Umstand, dass sich meine Wohn- und Arbeitsräume in einem Reihenhaus befanden, an dessen Unterhalt sich das Jobcenter nur noch im Rahmen der “angemessenen privat genutzten Wohnfläche” beteiligen wollte, haben ausgereicht, um einen Behördenkrieg zu entfachen, der mein Leben in ein existenzielles Desaster verwandelt hat.

Das Phantom meines Herzens
Auf dem Höhepunkt jener leidigen Entwicklung traf meine Lebensgefährtin, eine Migrantin aus der Dominikanischen Republik, den einsamen Entschluss, wie ein Phantom aus meinen Leben zu verschwinden. Sie konnte und wollte dem Druck, den das Jobcenter, die Gas- und Stromversorger, Hauseigentümer, die ehemalige Hausbank und der Gerichtsvollzieher auf unsere “Bedarfsgemeinschaft” ausgeübt haben, nicht länger standhalten und kehrte nach einem Ferienaufenthalt nicht mehr in die eheliche Gemeinschaft zurück : Ohne Vorankündigung. Ohne Begründung. Ohne eine Anschrift oder Telefonnummer zu hinterlassen.

Von den 600 €, die sie bei einem anstrengenden Halbtagsjob verdiente, hat sie monatlich 250 € Unterhalt an ihre Mutter und zwei minderjährige Kinder in der Dominikanischen Republik überwiesen, die sie Jahren nicht mehr gesehen hat. Diese (nachgewiesenen) Unterhaltszahlungen hat das Jobcenter jedoch nicht anerkannt, sondern “angeregt”, meine Frau soll sich von ihren Kindern verklagen lassen, um einen “gerichtlichen Unterhaltstitel” nachzuweisen. Der sauer verdiente Monatsverdienst wurde abzüglich eines geringen Freibetrages voll auf die Hartz-IV-Leistungen angerechnet.

Eine Vermisstenmeldung gerät auf Abwege
Ich war stinksauer und verstand irgendwie die Welt nicht mehr. Alle Versuche, den Verbleib meiner Frau über den Arbeitgeber oder ihren (Latino-) Bekanntenkreis ausfindig zu machen, scheiterten an einer Mauer des Schweigens. In dieser quälenden Situation beging ich den bodenlosen Leichtsinn, bei der Polizei anzurufen, um meinen “Freund und Helfer” um Hilfe zu bitten. Eine Beamtin ließ sich die Lage schildern. “OK, ich werde mich darum kümmern und rufe Sie später wieder an.”

Die Zeit verging, das Telefon schwieg. Gegen 23 Uhr rief ich zum zweiten Mal an, das Gespräch landet in der Telefonzentrale. Nach einer internen Rückfrage meldet sich Beamte mit ruppigem Ton zurück: “Hören Sie, Sie brauchen jetzt nicht mehr hier anrufen. Ihrer Frau geht es gut. Sie will keinen Kontakt mehr mit Ihnen und in Ruhe gelassen werden…” Und Tschüß! Ich hätte platzen können vor Wut!

»Wir brauchen keinen Durchsuchungsbeschluss…«
Statt der Adresse meiner Frau erhielt ich gegen 1 Uhr Überraschungsbesuch von einer Polizeistreife. Ich öffnete ein Fenster im ersten Obergeschoss und wartete gespannt was nun passieren würde. Zwei Polizeibeamte mittleren Alters betreten das Anwesen und blicken mit kritischer Mine zum Fenster »Guten Morgen! Wir wurden informiert, dass Sie einen Suizidversuch unternehmen wollen«, sagt die Beamtin. »Bitte öffnen Sie die Tür!«. Ihr Kollege fügt sogleich hinzu: »Wenn Sie die Haustür nicht freiwillig öffnen, werden wir Verstärkung anfordern und die Tür gewaltsam öffnen!«

Ich hege keine Ressentiments gegen Polizisten, doch der Vorhalt meiner nächtlichen Besucher, war mehr als verwegen. »Falls Sie einen richterlichen Beschluss haben, öffne ich Ihnen die Tür«, sagte ich. »Andernfalls bleiben Sie draußen und wir unterhalten uns am Fenster!« Sie hätten ebenso gut wieder in ihr Polizeiauto einsteigen und sich wichtigeren Dingen zuwenden können; hier bestand jedenfalls kein polizeilicher Handlungsbedarf. Doch die Befehlsverweigerung und mein herablassender Tonfall wirkten auf die Beiden wie ein “Rotes Tuch”: Sie waren verunsichert, fühlten gekränkt und konnten sich dem Drang, nun erst recht ihre Autorität unter Beweis zu stellen, nicht entziehen. «Wir brauchen keinen richterlichen Beschluss«, höre ich immer wieder – soll heißen: “Wir können auch ohne…”

Kommunikation außer Kontrolle…
Die weitere Konversation entglitt in ein aggressives Streitgespräch mit wechselseitigen Provokationen, Beschimpfungen und allem was dazugehört. Einem Jogger, der sich aus der Dunkelheit näherte, rief ich zu, er möchte bitte dableiben, damit ich einen Zeugen habe. Und wie haben die Beamten reagiert? Sie erteilten dem Jogger einen Platzverweis und forderten ihn auf, seiner Wege zu ziehen. Dann habe ich – mit Sichtkontakt zu den Beamten – einen Freund angerufen, der wohl wusste, in welchen Nöten ich wegen des Jobcenters und dem Verschwinden meiner Frau war. Er war beunruhigt, aber zu bequem um selbst vorbeizukommen. Deswegen rief er bei der Polizei an, sie möge doch mal nach dem Rechte sehen – ich wollte mir wohl “mein Lebenslicht ausblasen.” Vielen Dank auch, “Freund!”

Eine halbe Stunde später traf die “Verstärkung” am Einsatzort ein. Polizeifahrzeuge, Feuerwehr, DRK, Notarzt… Die kleine Strasse am Waldrand, in deren Abgeschiedenheit ich zwanzig Jahre gewohnt und gearbeitet habe, verwandelte sich in ein mitternächtliches Katastrophenszenario, dessen Anblick jedem Tatort-Regisseur Freudentränen in die Augen getrieben hätte. Ein Riesenkalb von Einsatzleiter wuchtete sich aus dem Streifenwagen. Er zieht meine fahnenflüchtige Muchachita hinter sich her und eilte schweren Schrittes auf das Haus zu. »Geben Sie auf und öffnen Sie die Haustür! Ich habe einen richterlichen Beschluss«. Na also, geht doch!, dachte ich mir. Während mir meine Frau mit zornigem Blick einen Schwall dominikanischer Beschimpfungen entgegenschleuderte, bat ich den Einsatzleiter, mir den Beschluss vorzulesen. Damit musste er rechnen! Doch der Beamte, der sich unter dem Pseudonym “Thomas” (sic!) vorgestellt hat, stammelte nur unbeholfen herum. Sein “Beschluss” entpuppte sich als Fake, und er selbst als hundsmiserabler Schauspieler. Teil II. erscheint in den nächsten Tagen… Länger leben, trotz Hartz IV Teil II

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Länger leben, trotz Hartz IV Teil II
Länger leben, trotz Hartz IV Teil III

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