HARTZ IV – Die Saat der Verzweiflung?

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Wenn in der Stadt der Menschenrechte die Menschenrechte mit Füßen getreten werden

Nürnberg: Der 06.10.2006, ein Tag vor seinem 43. Geburtstag, wird für Thomas M. der schreckliche Höhepunkt eines bisher schon bitteren und tragischen Lebenslaufs. Seine Mutter stirbt an den Folgen eines Unfalls, bei dem die Staatsanwaltschaft mittlerweile u. a. gegen eine Pflegekraft der AWO ermittelt. Es ist aber kein schneller Tod. Bei der notwendigen Operation kommt es zu einem massiven Blutverlust und in Folge dessen über 10 Tage hinweg zu einem
Multiorganversagen, was letztlich die Ursache für den schweren Tod seiner Mutter ist. Die ganzen Zeit über belügen ihn die Ärzte über den tatsächlichen Zustand seiner Mutter und ihren unausweichlichen Tod. Am 6.10.2006 zwingt man ihn ohne Vorwarnung zur schlimmsten Entscheidung seines Lebens, die Erlaubnis zur Abschaltung der lebenserhaltenden Maßnahmen für seine 78jährige Mutter. Doch es wird wirklich kein schneller, sanfter Tod, wie von den Ärzten
versprochen. Den schweren Todeskampf dämpfen die Ärzte mit größeren Morphingaben. Dies alles verursacht bei Thomas M. einen schweren Schock.

Selbst seit geraumer Zeit bereits mit starken Auswirkungen eines Burn-Out-Syndroms belastet, findet er seit über einem Monat keinen Schlaf mehr. Wenn er denn schlafen kann, dann vielleicht 4 Stunden. Dies führt immer wieder zu Schwächeanfällen, der letzte war verbunden mit einer Bewusstlosigkeit von 30 Minuten. Seine Ärzte fürchten mittlerweile, dass er einen Totalzusammenbruch erleiden könnte. 30 Jahre Krankheit, Erlebnisse wie zum Beispiel eine Operation im Uniklinikum Erlangen mit voller Schmerzempfindung oder dass er mit 11 Jahren Opfer eines Gewaltverbrechens wurde, haben zu seinem heutigen desolaten Gesundheitszustand beigetragen. Die tragischen Umstände beim Tode seiner Mutter, auf ihn wartende Krankenhaus- und Rehaaufenthalte entlasten die Situation keineswegs. Er kann sich aber nur sinnvoll zu einem stationären Aufenthalt begeben, wenn die äußeren Umstände im Lot sind. Bei einem ausgeprägten Burn-Out-Syndrom hat es anders keinen Sinn, deshalb wurden die Aufenthalte eben verschoben. Doch die betreffenden Einrichtungen drängen mittlerweile auf eine Entscheidung, auch hier wiederum neuer Druck.

Weil aber nun einmal eines auf das andere folgt. Zwei Wochen nach dem Tod seiner Mutter erhält eine Aufforderung der ARGE Nürnberg, dass ja nun seine Wohnung in der die Mutter mit ihm lebte, zu groß sei und er die Kosten durch geeignete Maßnahmen, wie auch einen Umzug in eine günstigere Wohnung, senken solle. Wie bei allen anderen Aufforderungen zur Kostensenkung, enthält auch diese die Belehrung darüber dass ansonsten nur noch die angemessenen Kosten getragen werden. Der zuständigen ARGE hier in Nürnberg sind die ganzen Umstände der Problematik von Thomas M. bekannt. Sogar die von der ARGE beauftragen Gutachter der Arbeitsagentur Nürnberg empfehlen die notwendigen Krankenhaus- und Rehaaufenthalte. Eine Antwort der ARGE auf seinen sofort erfolgten Widerspruch hin erfolgte bis heute nicht. All dieses Wissen um einen Menschen mit solch einer belastenden und teilweise erdrückenden Lebensgeschichte, die ihre deutlichen Spuren hinterlassen hat, ja ihn sogar bis hin an den Rande des Totalzusammenbruchs gebracht hat, hindert die Arbeitsgemeinschaft nicht daran wieder einmal wegen des Geldes sämtliche Menschlichkeit und humanitäres Denken fahren zu lassen. In seiner Not wandte sich Thomas M. zwischenzeitlich bereits an Kommunalpolitiker, die Bundesagentur für Arbeit, Vertreter der Bundespolitik und manche mehr, aber keiner hat sich bisher dazu herablassen
können, diesem Menschen in seiner ganz persönlichen Problematik beizustehen.

Aus dem Sozialministerium in Berlin erhielt er lediglich die telefonische Auskunft "… die ARGE halte sich an das Gesetz". Heißt das, bei Anwendung unserer Gesetze bleibt die Menschlichkeit außen vor? Wie sozial verträglich ist es, wenn einem Sexualstraftäter bei einem seiner Showauftritte zur Verzögerung seines Prozesses noch wärmende Decken gereicht werden, aber ein Mensch mit einer Lebensgeschichte wie Thomas M. nicht einmal eine kleine Trauerzeit zugestanden wird, damit er dieses Geschehnis erst einmal so verarbeiten kann, wie er es in seinem Fall verarbeiten muss? Nein, man ihn sogar noch soweit bringt, dass er die Einnahme seiner Medikamente und die Behandlung nicht weiter fortführen will, was bei ihm zum Tode führen kann. Ist das der Sinn der Einführung und der Reformen des SGB II? Fast möchte man es bejahen, denn dies ist in Nürnberg scheinbar kein Einzelfall. Eine Mieterin im gleichen Haus von Thomas M. erlebte fast die gleiche Situation wie er, beim Unfalltod ihres Mannes im Dezember des letzten Jahres. Nur die Tatsache, dass sie zwei kleine Kinder hat, rettete die Situation vorerst. Allerdings nach einer monatelangen Bearbeitungszeit und einer beißenden Erwartungssituation, was da noch kommen wird.

Hans- J. G., langzeitarbeitslos, schwerbehindert mit einem GdB von 70, gehbehindert und chronisch krank. Ihm ist es 2004, noch vor Einführung von Hartz IV und in 2005 ähnlich ergangen. Damals bereits im Bezug von Arbeitslosenhilfe kümmerte sich der gelernte Krankenpfleger um seine krebskranke Mutter in deren Wohnung. Diese verstarb im Juli, worauf er einen Antrag auf ergänzende Sozialhilfe stellte, um die Wohnung halten zu können. Er wurde über keines seiner
Rechte belehrt, lediglich die angemessenen Kosten wurden übernommen und ihm die Wahl gelassen auszuziehen in eine günstigere Wohnung oder eben aus seiner Arbeitslosenhilfe die Miete zu finanzieren. So musste er schnellstens in eine kurzfristig gefundene Wohnung, abgelegen in einem Ort, ohne Arzt, Apotheke, Lebensmittelgeschäft, umziehen. Kein Auto vorhanden und das nächste Lebensmittelgeschäft 5 km zu Fuß entfernt. Nach längerem Ringen erhielt er die Zusage für
eine Wohnung in Nürnberg und die Genehmigung der ARGE Nürnberger-Land dazu, denn mittlerweile war Hartz IV in Kraft getreten.

Trotz bekannter gesundheitlicher Einschränkungen, die von fast 20 Jahren in der Krankenpflege unter äußerst bescheidenden Arbeitsbedingungen, Mobbing und extremen psychischen Belastungen herrühren, genehmigte die ARGE die Übernahme erst in "letzter Minute", mit Sätzen wie "erst die Unterschrift unter die Abtretung, dann Geld. Und, … Umzugskosten oder ähnliches zahlen wir nicht". Mit einem Bekannten, der in der Not half und einen LKW mietete, zog er nach Nürnberg. Mittlerweile sowieso durch den ersten Umzug die meisten Möbel verloren, da die kleine abgelegene
Wohnung auch noch teilmöbliert war und keinerlei Unterstellungsmöglichkeit für die restlichen Möbel vorhanden war. Aufgrund seiner Behinderung und Krankheiten dauerte der Möbeltransport vom LKW in den ersten Stock zu seiner neuen Wohnung, bei diesen wenigen Möbelstücken, ganze 6 Stunden. Im weiteren Verlauf zeigte sich die "humanitäre" Einstellung der ARGE Nürnberg noch deutlicher. Hans-J. G. hat bis heute lediglich 70 € Erstausstattung erhalten. Gardinen wurden z. B. mit der Begründung abgelehnt, dass im 1. Stock keiner von der Straße aus ins Fenster schauen kann. Was ist mit den umliegenden, mehrstöckigen Häusern?

H. J. haust seit seinem Einzug auf einer über 10 Jahre alten Schlafcouch mit Federschaden, ein ärztlicherseits notwendiges, maßgefertigtes Bett mit Spezialmatratze wurde abgelehnt. Am Anfang hauste er lediglich auf dieser Couch und Kartons. Die Mitarbeiter der ARGE störte dies nicht. Im Laufe der Zeit konnte er sich wenigstens einen kleinen Schrank, einen Schreibtisch und einen kleinen Wohnzimmerschrank zusammen betteln, bei einem Freund der ihm die Sache dann auch noch auf seine Kosten liefern ließ. Weiter vorne im Text steht bereits die Frage nach einem Sinn in
dieser Reform nach Hartz IV? Zumindest erscheint die gewollte Ausgrenzung und Benachteiligung sozial schwacher Menschen, älterer Menschen, Behinderter und Kranker eine schlüssige These für Hans-J. G. Anders erlebt er es für sich jedenfalls nicht. Von den Gutachtern der Rentenversicherung wird er als voll erwerbsfähig angesehen, bei diagnostizierter Osteoporose, Gelenksarthrosen in Knien, Hüften, Schulter, Brustwirbelbruch, maligner Hypertonie, Stoffwechselerkrankungen, Herzkrankheit, Atemwegserkrankung usw.

Die Frage, wo man in Deutschland noch Menschlichkeit findet, würde H. J. beantworten: "Menschlichkeit findet sich dort, wo jemand bereit ist auch einmal auf einen Anspruch zu verzichten oder etwas Belastendes sein zu lassen. Da diese aber immer weniger werden, mache ich mir wenig Hoffnung für unsere Gesellschaft." Vielleicht ist irgendwann ein Verantwortlicher bereit die Frage zu beantworten, die Thomas M. und Hans-J. G. brennend beschäftigt: "Warum wird die
Menschlichkeit dem Geld geopfert?" Thomas M., 21.11.06

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