Butterwegge: Armut trotz Mehrfachjobs

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Der Armutsforscher Christoph Butterwegge kritisierte im Deutschlandfunk Hartz IV und die Armut trotz Arbeit. Ihm zufolge bezeichnet der Paritätische Wohlfahrtsverband 13 Millionen Deutsche als arm, trotz einem Höchststand der Beschäftigung. Laut Butterwegge arbeiteten fast 25 % der Erwerbstätigen im Niedriglohnbereich, also an der Grenze zur Armut.

Working poor in Deutschland
Butterwegge sagt: „Heute haben wir das Problem von Multijobbern. Da haben Menschen gleich mehrere Beschäftigungsverhältnisse. Morgens tragen sie Zeitungen aus. Mittags arbeiten sie im Schnellrestaurant und abends fahren sie vielleicht noch Pizzen herum und können kaum über die Runden kommen.“

In den USA heißen solche Menschen, die trotz Vollbeschäftigung um die Existenz kämpfen, „working poor“. Sie stellen, laut Butterwegge, einen Großteil des Armutsproblems in Deutschland.

Relative Armut
Armut sei dabei relativ zum Standard des Landes. Butterwegge sagte im Deutschlandfunk: „Man muss unterscheiden zwischen absoluter Armut und relativer Armut. Absolut arm ist jemand, der seine Grundbedürfnisse nicht befriedigen kann, der nicht genug zu essen hat, kein sauberes Trinkwasser, kein Dach über dem Kopf, aber was wir in den entwickelten Industrieländern wie der Bundesrepublik finden, ist eben relative Armut.“

Soziale Ausgrenzung
Was bedeutet relative Armut? Butterwegge erörtert: „Relativ arm ist jemand, der seine Grundbedürfnisse zwar befriedigen kann, der sich aber vieles von dem nicht leisten kann, was in der betreffenden Gesellschaft für fast alle anderen Gesellschaftsmitglieder normal ist, der nicht teil hat an bestimmten kulturellen und sozialen Prozessen in der Gesellschaft.“

Dazu zählten Menschen, die keine Kinokarte kaufen oder nicht gelegentlich in die Kneipe gehen könnten. Sie wären durch Armut ausgegrenzt, auch wenn sie nicht verhungern würden und eine Wohnung hätten.

Von den Klassenkameraden ausgelacht zu werden, weil man in Sommerkleidung im Winter auf dem Schulhof steht, könnte viel mehr schmerzen als die Kälte.

Lebenshaltungskosten berücksichtigen
Vergleiche mit armen Ländern seien insofern problematisch, weil in Deutschland auch die Lebenshaltungskosten viel höher seien als in diesen Ländern. In Litauen könnte man mit 500 Euro im Monat gut leben, in Luxemburg nicht einmal eine Besenkammer mieten.

Historische Vergleiche sind unzulänglich
Ein internationaler Vergleich mit anderen Industriestaaten sei tragfähiger als ein historischer Vergleich, weil ein Armer heute natürlich besser leben würde als ein Höhlenbewohner vor Jahrtausenden. Dennoch würde er ausgegrenzt.

Beschäftigung sagt nichts über Armut
Ein Viertel aller Beschäftigten im Niedriglohnsektor bedeute ein Problem in der Lebens- und Arbeitswelt. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt sage deshalb nichts darüber aus, wie viele Menschen arm sind, denn auch viele Menschen, die arbeiten, seien arm.

Ursachen für Armut sind Agenda 2010 und Hartz IV
Wesentliche Ursache für die Armut trotz Arbeit sind laut Butterwegge die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze. Diese neue Armut sei also bewusst gemacht, und Gerhard Schröder habe 2005 geprahlt, in Deutschland „einen der besten Niedriglohnsektoren“ in Europa geschaffen zu haben. Der Sozialstaat sei gezielt abgebaut worden, der Spitzensteuersatz gesenkt, ebenso die Kapital- und Gewinnsteuern.

Kluft zwischen Arm und Reich wurde gezielt verstärkt
Die Kluft zwischen Arm und Reich sei so verstärkt worden. Das Anheben der Mehrwertsteuer habe vor allem diejenigen Familien getroffen, die ihr Einkommen vollständig in den Alltagskonsum stecken müssten: Bezieher von Transferleistungen, Familien mit mehreren Kindern oder Geringverdiener.

Bereinigte Statistik
Die geringe Arbeitslosigkeit habe auch mit einer Bereinigung der Statistik zu tun: Wer sich zum Beispiel bei einem privaten Arbeitsvermittler bewerbe, gelte heute nicht mehr als arbeitslos. In Wirklichkeit gäbe es viel mehr Arbeitslose als in der offiziellen Statistik.

Gute Situation kein Verdienst von Hartz IV
Die derzeit verhältnismäßig gute Situation sei nicht der Agenda 2010 und den Hartz-Gesetzen zu verdanken, sondern unter anderem dem relativ guten Kündigungsschutz und der Verlängerung des Kurzarbeitergeldes.

Die Situation sei also nicht wegen Hartz IV gut, sondern trotz Hartz IV, zum Teil wegen Maßnahmen, die in eine andere Richtung gingen.

Hartz IV wie Klapperstorch, der Kinder bringt
Einen Zusammenhang zwischen Hartz IV und dem Rückgang der Arbeitslosigkeit zu behaupten, vergleicht er damit, zu erzählen, dass der Klapperstorch die Kinder bringt, weil in Mecklenburg immer mehr Störche nisten und zugleich immer mehr Kinder auf die Welt kommen. So verfahre die Bundesregierung.

Zahl der armen Kinder verdoppelt
Seit der Einführung von Hartz IV habe sich die Anzahl der armen Kinder verdoppelt, und das, obwohl es heute weniger Kinder und Jugendliche gäbe. Die Reformen hätten für mehr Armut gesorgt.

Gerhard Schröders Agenda 2010 hätte die Große Koalition fortgesetzt, auch wenn es in jüngster Zeit soziale Verbesserungen wie Mütterrente und Mindestlohn gegeben hätte. Das Armutsrisiko sei heute viel höher als 2005 und noch viel höher als in den 1990er Jahren.

Dringend etwas für Dauerarbeitslose tun
Der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz mache den Fehler, dass er sich kaum um die Dauerarbeitslosen kümmere.

Jeder zweite von Hartz IV Betroffene lebe derweil vier Jahre oder länger von ALG I, eine Million schon seit es Hartz IV gäbe. Dringend müsste etwas für diese Menschen getan werden.

Längeres ALG I und Mindestlohn
Das ALG I zu verlängern, wie Schulz fordert, helfe nicht denjenigen, die gleich in Hartz IV rutschten, und dazu gehöre jeder vierte neue Erwerbslose. Richtig von der SPD sei es indessen, mehr Menschen in ALG I einzubeziehen. So werde der Sozialstaat ein Stück weit wiederhergestellt. Der Mindestlohn reiche in der Höhe nicht aus. Er sei jedoch ein historischer Meilenstein.

Höhere Spitzensteuersätze: 100 Milliarden für den Sozialstaat
Butterwegge hält höhere Spitzensteuersätze für unumgänglich. Das gleiche gälte für die großen Kapitalgesellschaften. Die hätten unter Helmut Kohl 53 % Steuern zahlen müssen, heute 15 %. Solche Steuersätze brächten bis zu 100 Milliarden Einnahmen pro Jahr, die in die soziale und Bildungsinfastruktur investiert werden könnten.

Mittelschicht läuft zu rechten Demagogen
Für soziale Maßnahmen gäbe es indessen bei der Mittelschicht wenig Sensibilität, das Kleinbürgertum wende sich den rechten Demagogen der AfD zu. Derweil würden die etablierten Parteien das Problem der sozialen Spaltung nicht ernst nehmen.

Unter den Alleinerziehenden wären 43,8 % einkommensarm, und Alleinerziehende mit Kindern würden in einer reichen Gesellschaft einfach abgehängt.

Skandinavien Vorbild
Die skandinavischen Länder kümmerten sich viel wirksamer um arme Menschen. Der Staat gewährleiste zum Beispiel täglich warme Mahlzeiten zum Mittag in der öffentlichen Kinderbetreuung statt armen Familien erst in extrem bürokratischen Verfahren Teilhabepakte zu gewähren. Die Bildungs- und Teilhabepakete seien bürokratische Monster, die Verfahren entwürdigend.

Vorurteile gegenüber Armen
Armen würde unterstellt, sie seien Drückeberger, Faulenzer und Sozialschmarotzer. Die Realität sehe zwar gänzlich anders aus, aber solange ein solches Bewusstsein herrsche, werde sich an der Kluft zwischen Arm und Reich kaum etwas ändern. (Dr. Utz Anhalt)

Bild: vectorfusionart – fotolia

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