Bertelsmann-Studie: Noch ärmer als mit Hartz IV

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Bertelsmann: Arme Familie ohne „Hartz IV“ oft ärmer als arme Familie mit „Hartz IV“

24.07.2013

Eine Studie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung zum „Wohnungsangebot für arme Familien in Großstädten“ (im folgenden kurz: „Bertelsmann-Studie“) und insbesondere die Pressemeldung der Bertelsmann Stiftung „Armut nicht nur eine Frage von Hartz IV“ sorgten am 22. Juli 2013 für Schlagzeilen: „Eine aktuelle Studie der empirica AG im Auftrag der Bertelsmann Stiftung belegt: Wer als Familie weniger als 60 Prozent des ortsüblichen mittleren Einkommens verdient, hat in 60 der 100 größten deutschen Städte nach Abzug der Miete im Durchschnitt weniger als eine Hartz IV-Familie.“ Als Spitzenwert wird von der Bertelsmann Stiftung die Stadt Jena präsentiert: „In Jena bleiben in einer Familie nach Überweisung der Miete rechnerisch nur 666 Euro pro Monat.“

Der sensationelle Befund: Wer als arme Familie kein Wohngeld und Kinderzuschlag beantragt oder, wenn noch ärmer, kein „Hartz IV“ beantragt, hat nach Abzug der Miete (und Kosten der Heizung) in der Regel weniger als eine arme Familie, die „Hartz IV“ beantragt und deren Antrag bewilligt wird. Diese Familien, die ihre Rechtsansprüche, aus welchen Gründen auch immer, nicht durchsetzen
bzw. nicht durchsetzen können oder wollen, sind Teil der „verdeckten Armut“ über deren Größenordnung aktuell im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung der Regelbedarfs-Ermittlung gestritten wird.

Über die Zahl der Familienin den untersuchten Großstädten, die die ihnen zustehenden Leistungen beantragen bzw. nicht beantragen, wird in der Bertelsmann-Studie jedoch kein Wort verloren. Die Frage, wie sich deren Zahl mit dem zum Teil drastischen Anstieg der Mieten und Heizkosten verändert, wird nicht gestellt. Wie viele vierköpfige Familien mit zwei Kindern z.B. in der Lichtstadt Jena leben, die 2011 ein monatliches Einkommen von lediglich 1.366 Euro (einschließlich Kindergeld und gegebenenfalls Wohngeld und Kinderzuschlag) hatten und davon 700 Euro für Unterkunft und Heizung („Mietkosten“) aufbringen mussten, erfährt man somit nicht. Stattdessen erfährt man: Es gibt (rechnerisch) arme Familien in Jena, denen „nach Überweisung der Miete rechnerisch nur 666 Euro“ im Monat bleiben. Und eine offenbar ganz wichtige Botschaft: Dieser Betrag liegt 43 Prozent unter dem in der „Bertelsmann-Studie“ ermittelten Regelbedarf einer „Hartz IV-Familie“. Hier die arme Familie ohne „Hartz IV“ und da die im Verhältnis dazu „reiche Hartz IV-Familie“ für die die „Mietkosten“ angeblich kein Problem darstellen.

Konsequent werden dann in der „Bertelsmann-Studie“ auch die amtlichen Statistiken der Bundesagentur für Arbeit über die „Wohn- und Kostensituation nach Typ der Bedarfsgemeinschaft“ und die dort ausgewiesenen durchschnittlichen „tatsächlichen (und anerkannten) Kosten der Unterkunft und Heizung“ des Bedarfsgemeinschaftstyps „Paar mit zwei Kindern“ ignoriert. Die Wohnsituation von „Hartz IV-Familien“ (der „Bestand“) scheint nicht von Interesse zu sein. Eine „Hartz IV-Familie“ und deren Regelbedarf ohne die Kosten der Unterkunft interessiert lediglich als „Vergleichsgröße“.

Dabei würde ein Blick in diese Statistik („Unterkunftsart Miete“) und insbesondere der Vergleich der dort dokumentierten durchschnittlichen „tatsächlichen (und anerkannten) Kosten der Unterkunft und Heizung“ (Bestand) mit den im Auftrag der Bertelsmann Stiftung ermittelten „Mietkosten für familiengeeignetes Wohnen im unteren Preissegment“ (Neuvermietung) Fragen aufwerfen.

Zum Beispiel: In der Stadt Jena wurden im Dezember 2011 vom dortigen Jobcenter für 166 Bedarfsgemeinschaften des Typs „Paar und zwei Kinder“, die zur Miete wohnen, durchschnittliche „tatsächliche Kosten der Unterkunft und Heizung“ in Höhe von 551,29 Euro ermittelt. Die in der „Bertelsmann-Studie“ ermittelten „Mietkosten für familiengeeignetes Wohnen im unteren Preissegment“ in Höhe von 700 Euro in der Stadt Jena liegen 148,71 Euro (27,0 Prozent) über den durchschnittlichen „tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung“ in Höhe von 551,29 Euro der armen Familien, die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gemäß SGB II (Hartz IV) beantragt und erhalten haben. Die Konstellation, „Mietkosten für familiengeeignetes Wohnen im unteren Preissegment“ wesentlich höher als die durchschnittlichen „tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung“, findet man in den ostdeutschen Städten, die von der „Bertelsmann-Studie“ untersucht wurden, neben Jena nur noch in Potsdam.

Für alle anderen untersuchten ostdeutschen Städte gilt: Die in der „Bertelsmann-Studie“ ermittelten, „Mietkosten für familiengeeignetes Wohnen im unteren Preissegment“ sind zum Teil wesentlich niedriger als die durchschnittlichen „tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung“ der vierköpfigen Familien mit zwei Kindern, die „Hartz IV“ beantragt und erhalten haben.

In den Städten Chemnitz und Leipzig (z.B.) liegen die in der „Bertelsmann-Stiftung“ ermittelten „Mietkosten für familiengeeignetes Wohnen im unteren Preissegment“ angeblich über 30 Prozent unter den durchschnittlichen „tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung“ einer vierköpfigen Familie mit zwei Kindern, die „Hartz IV“ beantragt und erhalten haben. Unglaublich und vermutlich auch nicht zutreffend.

Die Zahlen zu den „Mietkosten für familiengeeignetes Wohnen im unteren Preissegment“ müssen wohl zum erheblichen Teil als absurd eingestuft werden.Das gilt nicht nur für die z.B. 342 Euro in der Stadt Leipzig (bei „Ist-Kosten“ im Dezember 2011-Bestand vierköpfiger Familien mit zwei Kindern, die „Hartz IV“ beantragt und erhalten haben, in Höhe von 508,31 Euro) sondern auch für viele andere Städte wie z.B. Bremerhaven mit angeblichen „Mietkosten für familiengeeignetes Wohnen im unteren Preissegment“ in Höhe von 307 Euro“ (bei durchschnittlichen „Ist-Kosten“ in Höhe von 547,21 Euro).

Man darf gespannt sein, wie Kommunen, Bund und einzelne Jobcenter mit diesen zum Teil erheblichen (absurden) Differenzen zwischen den angeblichen „Mietkosten für familiengeeignetes Wohnen im unteren Preissegment“ (Neuvermietung) und den durchschnittlichen „tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung“ (Bestandsfälle) umgehen … und wie sie damit umgehen, dass Rechtsansprüche von vermutlich vielen Familien nicht wahrgenommen werden (können). (Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ)

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