Hartz IV Regelsätze sind verfassungswidrig

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Sozialverein ARCA Soziales Netzwerk e.V.: Hessisches Landessozialgericht bringt Hartz-IV vor das Bundesverfassungsgericht – die Geschichte dahinter . Familie aus Eschwege / Werra-Meißner-Kreis (Nordhessen) erringt nach vier Jahren Rechtstreit gegen Hartz-IV einen ersten Etappensieg

Thomas Kallay, langzeiterwerbsloser Hartz-IV-Bezieher, Linker, Gewerkschafter und Vorsitzender einer seit 10 Jahren bestehenden Erwerbslosen-Initiative aus Eschwege in Nordhessen, ist glücklich und traurig zugleich. Glücklich, weil er am 29. Oktober 2008 gegen 18:00 im Hessischen Landessozialgericht in Darmstadt die Beschlußverkündigung miterleben durfte, daß Hartz-IV nun vom 6. Senat des Landessozialgerichtes unter dem Vorsitz von Sozialrichter Dr. Jürgen Borchert vor das Bundesverfassungsgericht gebracht wird.

Traurig ist der gelernte Fachjournalist für Computertechnik Kallay, wie er sagt, weil das noch weitaus besser hätte laufen können. Kallay und andere hatten nämlich seit dem Sommer 2004 an der juristisch durchaus laienhaften, sozialfachlich gesehen aber durchdachten und ausführlichen Klageschrift gegen das Hartz-IV-Unrecht gearbeitet.

Nachdem er dann seine Klage im Oktober 2004 auf dem Weg gebracht hatte, veröffentlichte er im Internet den 42-seitigen Klageschriftsatz nebst unzähligen Anlagen anonymisiert, fügte eine Art "Bedienungsanleitung" dazu und forderte andere Betroffene auf, ihm zu folgen und ihrerseits mit dieser quasi "vorgekauten" Klageschrift bei den für sie zuständigen Sozialgerichten einzureichen.

Offenbar war ihm aber kaum jemand damit gefolgt, und er ist nun traurig, weil er sagt, daß am 29. Oktober 2008 durchaus 10 oder mehr Leute aus Hessen als Kläger mit ihm zusammen im Hessischen Landessozialgericht hätten sitzen und ebenfalls den Beschluß des 6. Senates des LSG erfreut vernehmen können, und daß dies in anderen Bundesländern auch der Fall hätte sein können.

Woran das liegt, daß niemand seinen Weg gehen wollte, weiß das politisch interessierte IG-BAU-Mitglied Kallay nicht. Er erfuhr jedoch seit 2004 nach und nach, daß die allermeisten, die sich überhaupt bezüglich der Verfassungswidrigkeit des Hartz-IV-Systems zu klagen trauten, mit lediglich sechs- bis zehnseitigen Schriftsätzen aufwarteten, die dann größtenteils von den erstinstanzlichen Sozialgerichten abgewiesen wurden – und die meisten Hartz-IV-Bezieher, die geklagt hatten, liessen es dann dabei auch bewenden, was nicht hätte passieren dürfen.

Kallay verlor selbst auch vor dem Sozialgericht, und, als ihm auf seine Berufung hin vor dem LSG Hessen zunächst durch einen Einzelrichter die Versagung der Prozeßkostenhilfe für die 2. Instanz angekündigt worden war, wandte er sich an den, ihm langjährig bekannten Rechtsanwalt Hubertus Brondke aus Wehretal-Reichensachen (Nordhessen), der dann den bisherigen Vortrag juristisch abrundete, Prozeßkostenhilfe genehmigt bekam und das Verfahren dann als Anwalt für Kallay und seine Familie erfolgreich weiterführte.

Was war nun passiert im Landessozialgericht Hessen in Darmstadt am 29. Oktober 2008?
Das Hessische LSG hatte in den Wochen zuvor vier Gutachten über das Hartz-IV-System und vor allem auch dessen Bedarfsbemessung eingeholt, aus denen ebenso, wie aus einer weiteren fachlichen Äußerung dann hervorging, daß die gesamte Bemessung der Hartz-IV-Regelleistung durch die vormalige Regierung Schröder per sogenannten EVS (Einkommens- und
Verbrauchsstudien) offenbar unter ungesetzlichen und auch fachlich und sozial falschen Voraussetzungen zustande gekommen war.

Unter anderem beanstandeten die Darmstädter Richter, dass der besondere Bedarf von Familien mit Kindern durch die Regelleistungen nicht berücksichtigt werde. Für die Begrenzung der Leistung für Kinder auf 60 Prozent des Regelsatzes eines Erwachsenen fehle es an einer hinreichenden Begründung. Nicht ersichtlich sei auch, weshalb 14- jährige Kinder trotz höheren Bedarfs die gleiche Summe erhielten wie Neugeborene.

Das Bundesverfassungsgericht, so die LSG-Richter weiter, habe bereits 1998 bei der Prüfung der Steuerfreibeträge den damals geltenden Regelsatz für Kinder beanstandet, weil dieser den außerschulischen Bildungsbedarf nicht berücksichtige. Diese höchstrichterliche Entscheidung sei bei der Hartz-IV-Gesetzgebung nicht beachtet worden, kritisierte das Landessozialgericht. Die Regelsätze seien weder mit der Menschenwürde, noch mit dem Gleichheitsgebot und dem sozialen Rechtsstaat vereinbar und decken laut dem Beschluß des LSG nicht das soziokulturelle Existenzminimum von Familien und verstoßen gegen das Grundgesetz. (HLSG, Beschluß vom 29. Oktober 2008, Az.: L 6 AS 336/07). Nach mündlicher Verhandlung beschloss der 6. Senat daher, das Verfahren dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen.

Nachdem Rechtsanwalt Brondke als Klägervertreter sein umfassendes Schlußwort gehalten hatte, hatte sein Mandant Thomas Kallay vor der Beschlußverkündung als Kläger das letzte Wort. Er verwies zunächst auf die Tatsache, daß er sowohl Betroffener, als auch seit Jahren engagierter Aktiver in der ehrenamtlichen Erwerbslosensozialarbeit ist und von daher einiges an sozialem und auch sozialrechtlichen Fachwissen mitbringt.

Er warf zunächst den anwesenden Vertretern der beklagten ARGE "Arbeitsförderung Werra-Meißner" und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) vor, die Realität des Lebens mit Hartz-IV überhaupt nicht zu kennen. Denn in der sechstündigen Verhandlung hatte der Vertreter des Ministeriums unter anderem geäußert, in der Regelleistung für Hartz-IV seien bis zu 90.- Euro für Telefon- und sonstige Kommunikation enthalten, von denen man einen Teil anderweitig verwenden könne, weil heute ja Anschlüße für Telefon und Internet schon für 35.- Euro erhältlich seien.

Kallay klärte auf, daß er und seine und Familie aus der Hartz-IV-Regelleistung keinen Cent für einen Telefonanschluß, geschweige
denn für Internet erübrigen können. Daß sie trotzdem Telefon und Internet haben, liegt daran, daß Kallay Vorsitzender des Eschweger Vereins ARCA Soziales Netzwerk e.V. ist, einer Erwerbslosen-Initiative, die sich seit 1998 um Menschen in schwierigen Lebenslagen ehrenamtlich und kostenlos kümmert. Weil Kallay in seinem Büro für den Verein ehrenamtlich arbeitet, wurde dort der Vereinstelefonanschluß nebst Internet (Flatrate) installiert, den Kallays auch privat nutzen können.

Der Vertreter des BMAS forderte außerdem, daß klagende Hartz-IV-Bezieher ihre Probleme mit den Regelsätzen höchst detailliert auf den Cent genau vortragen müßten. Kallay hielt ihm dann im Schlußwort entgegen, daß es unrechtes zweierlei Maß sei, wenn Sozialleistungsbezieher sich wegen allem und jedem unter der ständigen Androhung von Sanktionen "völlig nackig" machen müssten, während Unternehmer in Deutschland ohne große Überprüfungen Millionen und Milliarden Euro an Fördergeldern vom Staat erhielten und damit machen könnten, was sie wollen, und sich niemand mehr darum schert – auch dann nicht, wenn solche Unternehmer plötzlich hier einen Konkurs hinlegen und mitsamt allen Förderngeldern ins Ausland verschwänden.

Der dem Verfahren beigeladenen Stadt Eschwege hielt Kallay vor, daß ihre angeblich kostenlosen Freizeitangebote für Kinder, Jugendliche und Familien gar nicht so kostenlos seien, denn diese würden schließlich refinanziert durch rechtswidrige Quersubventionen, die die Stadt Eschwege aus Überschüßen des örtlichen Energielieferanten Stadtwerke Eschwege GmbH erhielte, die diese wiederum mit wucherisch erhöhten Energiepreisen erwirtschaftete, die auch die Hartz-IV-Bezieher zu zahlen hätten, so daß diese Sozialleistungsbezieher letztlich auch die angeblich "kostenlosen" Freizeitangebote der Stadt und des Landkreises Werra- Meißner finanziell mittragen.

Dem ebenfalls beigeladenen Landkreis Werra-Meißner, der Teilhaber der örtlichen ARGE "Arbeitsförderung Werra-Meißner" ist und geäußert hatte, daß es ja ausreichend Freitzeitangebote für Kinder auch an der Schule des Kindes der Eheleute Kallay gäbe, hielt Kallay vor, daß auch dies wenig lebensnah sei, denn Kinder hätten heute ein weitaus höheres Lernpensum, als noch vor 10 Jahren. Wenn sein Kind mittags um 13:30 Uhr herum heimkäme, würde es Mittag essen, dann etwas ruhen, dann Hausaufgaben machen, und dann Freizeit haben, wie es sich gehöre. Die Freizeitangebote der Schule gingen jedoch direkt nach dem Unterricht los, so daß die Kinder, die daran teilnehmen, erst spät nachmittags nach Hause kämen, essen und dann bis in die Abendstunden an den Hausaufgaben säßen und somit einen Arbeitstag wie ein Erwachsener hätten. Von daher auf die schulischen Freizeitangebote zu verweisen, sei lebensfremd.

Im Termin vor dem LSG war auch vorgetragen worden durch Gutachter und Vertreter des BMAS sowie der ARGE, daß ja die Regelleistungen des Hartz-IV-Systems anhand sogenannter EVS (Einkommens- und Verbrauchstichproben) ermittelt werden. Heraus kam aber auch, daß noch nicht einmal die Richter des 6. Senates des Hessischen Landessozialgerichtes nach drei Wochen Recherche Informationen über das Bemessungsverfahren per EVS vorliegen hatten, weil es diese Informationen, wie dann der Vertreter des BMAS schließlich zugeben musste, schlichtweg nicht gibt.

Kallay verwies in seinem Schlußwort darauf, daß hier jedwede sozialrechtlich, verwaltungsrechtlich und eben auch grundgesetzlich
vorgeschriebene Transparenz völlig fehle und er daher keinerlei Gewähr dafür sähe, daß die Auswertung dieser EVS und die Bemessung der Regelsätze durch die Regierung Schröder und später Regierung Merkel überhaupt jemals irgendwie sachgerecht erfolgt seien und erfolgen würden.

Er verwies zudem darauf, daß die Regelsätze, die derzeit gültig sind, auf einer EVS aus dem Jahre 1998 basieren, mithin also diese EVS-Werte bereits sieben Jahre alt waren, als das Hartz-IV-System in 2005 eingeführt worden war. Kallay sagte, daß diese ganze EVS-Sache demnach ständig Jahre hinter der Realität (Lebenshaltungskosten, Energiekosten, Wohnkosten usw.) hinterherhinke, wodurch die Hartz-IV-Regelsätze auch viel zu niedrig seien und die, aktuell über 15 Millionen Hartz-IV-Leistungsbezieher und hierbei eben auch deren (in dieser Zahl enthaltenen) Kindern ständig und rechtswidrig in fortwährender sozialer Not hielten.

Es ginge hier, so Kallay abschließend, schließlich nicht um Autos oder Möbel, die man beliebig lange lagern könne, bis etwas ausgearbeitet sei, sondern um Menschen und hier vor allem um Kinder, die die Regierung Schröder und in deren Fortsetzung die Regierung Merkel anhand stets veralteter Zahlen in Armut hält und sich auströdelt.

Sozialleistungsbezieher müssten schließlich sofort springen, wenn der Staat bzw. die ARGE pfeife, aber die Regierung nehme sich das Unrecht heraus, sich mit korrekter, realistischer und lebensnaher Bemessung von Sozialleistungsregelsätzen jahrelang Zeit zu lassen. Dies alles ginge nicht, und auch aus diesem Gründen heraus sei das gesamte Hartz-IV-System mindestens grundgesetzwidrig und gehöre daher vor das Bundesverfassungsgericht, was, so Kallay, Ziel seiner Klage nicht nur in seinem und seiner Familie, sondern auch im Interesse aller von Hartz-IV betroffenen Menschen in Deutschland gewesen sei.

Auf unsere heutige Frage, was er denn wohl mache, wenn das Bundesverfassungsgericht pro Hartz-IV entscheide, antworte Kallay, daß er das erstens nicht glaube, und es zweitens schließlich noch den Europäischen Gerichtshof gäbe, und er dann eben dort vortragen wird – Hartz-IV müsse entweder weg, oder aber grundlegend im Interesse der davon betroffenen zig Millionen Menschen in Deutschland geändert werden.

Und es sei auch nötig, dem Hartz-IV-System einen anderen Namen zu geben, so Kallay, weil er es für beschämend für Deutschland halte, daß eine staatliche Sozialreform den Namen eines Mannes trüge, der zwar ein Freund des vormaligen Bundeskanzlers Schröder sei, seinen Arbeitgeber aber finanziell hinterging, um von dem so ergaunerten Geld unter anderem Prostituierte aus Brasilien einfliegen zu lassen. (31.10.2008, Sozialverein ARCA Soziales Netzwerk e.V.)

Ist das Bürgergeld besser als Hartz IV?

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