Hartz IV: Ansprüche aus 2006 geltend machen

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Dortmunder gewinnt vor Bundessozialgericht: Hartz IV-Empfänger können bis Ende des Jahres noch Ansprüche aus 2006 geltend machen

21.12.2010

Am 15 Dezember 2010 entschied das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel, dass Empfängerinnen und Empfänger von Arbeitslosengeld II (Hartz-IV) auch Bescheide aus den vier zurückliegenden Jahren auf Ihre Rechtmäßigkeit durch die ARGE überprüfen lassen können.

Dieses war immer dann streitig, wenn das BSG erstmalig festgestellt hat, dass z.B. Mietern im Hartz IV-Bezug auch Renovierungskosten gezahlt werden müssen. Wenn dann weitere Betroffene beantragten, die Ihnen gegenüber ergangenen Bescheide der letzten vier Jahre zu überprüfen und ggf. nachzuzahlen, wurde dieses in der Regel durch die ARGEn abgelehnt. So auch in Dortmund.

Mitte 2008 hatte der Mieterverein Dortmund per Musterschreiben dazu geraten, die Erstattung rechtswidriger Kürzungen von Heizkosten rückwirkend bis Anfang 2005 zu beantragen. Dass die bisherigen Kürzungen zu hoch ausfielen, hatte das BSG erstmalig im Februar 2008 festgestellt. Hierzu wurden mehrere Gerichtsverfahren geführt. Ein vom Mieterverein Dortmund beratener Dortmunder gewann nun seinen Prozess am 15 Dezember 2010 vor dem Bundessozialgericht.

Damit wurde ein Grundsatzurteil ausgelöst, da eine Prüfung aller ALG II-Bescheide der zurückliegenden vier Jahre auf Antrag der Leistungsempfänger ermöglicht wurde. Der Überprüfungsanspruch bezieht sich auf den gesamten Bereich der Kosten der Unterkunft und ist nicht auf die Thematik der Heizkostenabzüge beschränkt.

Worum ging es im rechtlichen Detail?
Der Dortmunder Mieter erhielt im Rahmen seines Arbeitslosengeld II-Anspruch auch Heizkosten. Technisch bedingt waren in den Heizkosten – technisch nicht erfassbar und somit trennbar – auch Kosten für Warmwasser enthalten. Daher wurden die Heizkosten gekürzt, da Kosten für Warmwasser bereits mit der Regelleistung abgegolten gelten, im Rahmen von Wohn- und Heizkosten kein zweites Mal bezahlt werden sollen. Gestritten wurde um die Höhe der Kürzung. Deren Berechnung war bundesweit sehr umstritten.

Erst im Februar 2008 hat das Bundessozialgericht durch mehrere Urteile hier Klarheit geschaffen. Dabei stellte sich heraus, dass dem Dortmunder Mieter in der Vergangenheit die Heizkostenerstattung zu hoch gekürzt wurde. Der Kläger forderte die zu Unrecht gekürzten Beträge rückwirkend ab dem 01 Januar 2005 zurück.

Grundsätzlich ist dieses möglich. Im Sozialrecht sieht die Gesetzgebung der sozialliberalen Koalition der 1970-er Jahre vor, dass zugunsten von Sozialleistungsempfängern die Gerechtigkeit vorrang hat. Daher existiert die gesetzliche Vorschrift des § 44 Sozialgesetzbuch Band Zehn (SGB X), demzufolge auch bereits rechtskräftige, ablehnende, Bescheide vier Jahre lang auf Antrag hin überprüft und geändert werden können.

Eine Ausnahme galt im Arbeitsförderungsrecht und nun auch im Recht der Grundsicherung für Arbeitslose nur dann, wenn es eine bundesweit einheitliche Rechtspraxis der Bundesagentur gab und sich dann eine bereits existierende Rechtsprechung des Bundessozialgericht (BSG) ändert. Hinsichtlich dieser Änderung gab es keine rückwirkende Erstattung.
Ob diese zuletzt genannte Ausnahme vorlag, war Anlass für diesen Rechtsstreit.

Wie hat das BSG entschieden?
Das BSG (B 14 AS 61/09 R v. 15 Dezember 2010) hat entschieden, dass derartige Ausnahmen nicht vorliegen. Der Kläger war daher berechtigt, ihm unberechtigt gekürzte Heizkosten für vier Jahre rückwirkend erstattet zu erhalten.

Das begründet sich daraus, dass es zu der konkreten Frage der Warmwasseranrechnung bislang keine feststehende Rechtsprechung gab. Das BSG hat sich im Februar 2008 erstmalig mit dieser Frage befasst. Es gab somit keine bereits feststehende Rechtsprechung, auf welche die Bundesagentur vertrauen durfte, was dann zum Ausschluss einer Rückwirkung geführt hätte.

Wie ist das Urteil zu bewerten?
„Es handelt sich um ein Grundsatzurteil, weit über diesen Einzelfall hinaus“, betont Rechtsanwalt und Fachanwalt für Sozialrecht Hauke Herrmann, welcher den Kläger vor dem Bundessozialgericht vertreten hatte. „In der Sache betrifft diese Rechtsprechung zumindest die meisten streitigen Fragen der Kosten der Unterkunft, darüber hinaus auch weitere streitige Fragen bei Hartz IV. Anwendbar sind die ausgeurteilten Grundsätze immer dann, wenn eine streitige Frage noch nicht durch ein oberstes Gericht entschieden wurde.“

„Diese Rechtsprechung ist auch ausdrücklich zu begrüßen“, ergänzt Holger Gautzsch, Rechtsanwalt beim Mieterverein Dortmund und Umgebung e.V.. „Es gibt bei Hartz IV hochstreitige Fragen, deren rechtliche Beurteilung bis zu einer Klärung durch das BSG einfach offen ist. Andererseits ist zu beobachten, dass gerade bei den Kosten der Unterkunft die Kommunen auf Zeit spielen, d.h. abwarten, bis eine an sich unstreitige Frage nach Jahren vor dem BSG geklärt wurde. In beiden Situationen werden Betroffene hinsichtlich ihres Existenzminimums nicht rechtlos gestellt, sondern können nach einer erfolgten rechtlichen Klärung die Ihnen zuvor versagten Ansprüche geltend machen.

Was heißt das für weitere Betroffene?
Für alle weiteren Betroffenen heißt dieses, dass diese alle rechtswidrigen Bescheide rückwirkend bis Anfang 2006 durch einen Antrag jetzt noch überprüfen lassen können.

WICHTIG: Dieses ist aber nur noch wenige Monate möglich!
Zum 01 Januar 2011 ist eine Änderung der Hartz IV-Gesetzgebung durch den Bund geplant, die eine Verkürzung der rückwirkenden Erstattung auf ein Jahr vorsieht. Durch den Bundesrat ist dieses Änderungsgesetz am 17 Dezember 2010 zwar zunächst auf Eis gelegt worden, trotzdem bleibt Betroffenen wenig Zeit.

„Die geplante Verkürzung der Frist für eine rückwirkende Erstattung zu Unrecht versagter Leistungen bei den Kosten der Unterkunft und Hartz IV ist ein sozialpolitischer Skandal“, urteilt Tobias Scholz, wohnungspolitischer Sprecher des Mieterverein Dortmund. „Die Gewährung von Leistungen der Grundsicherung ist für eine schlecht aufgestellte Verwaltung ein sehr fehleranfälliges Massengeschäft, für die Betroffenen bedroht dieses jedoch die Existenz. Die bisherige 4-Jahresfrist hat geholfen, dass Ansprüche in einem oder wenigen Gerichtsverfahren geklärt werden konnten, die Verwaltung dann allen weiteren Antragstellern die diesen zustehenden Leistungen gewähren konnte. Jetzt sind alle Betroffenen, die nicht selbst geklagt haben, nach einem Jahr ausgeschlossen. Solange dauert in der Regel bereits ein Gerichtsverfahren vor dem Sozialgericht in erster Instanz. Dieses hat zur Konsequenz, dass alle potentiell Betroffenen selbst werden Klagen müssen. Eine vollkommen überflüssige zusätzliche Mehrbelastung der Sozialgerichte.“ (pm Mieterverein Dortmund)

Autoren:
Holger Gautzsch
Rechtsanwalt, Mieterverein Dortmund und Umgebung e.V.

Tobias Scholz
Wohnungspolitischer Sprecher. Mieterverein Dortmund und Umgebung e.V.

Rechtsanwalt Hauke Herrmann
RAe Cölsche, Herrmann, Gomonn, Dr. Gößlinghoff
Märkische Str. 46, 44141 Dortmund

Lesen Sie dazu:
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Weitere Informationen und Musterschreiben sind beim Mieterverein Dortmund (www.mvdo.de und in der Geschäftsstelle) erhältlich.

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