Hartz IV: Amazon Skandal weitet sich aus

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Amazon-Mitarbeiter berichten über schwerwiegende Abzocke und schlimmen Arbeitsbedingungen

21.11.2011

In zwei Artikeln (1,2) berichteten wir bereits über die Geschäftspraktiken des Internetgiganten Amazon. Nachdem wir, das Erwerbslosen Forum und zahlreiche weitere Medien berichteten, dass der Konzern mit Hilfe des Jobcenters während der Vorweihnachtszeit Hartz IV Bezieher zunächst ohne Lohn für zwei Wochen beschäftigt, um dann die überwiegende Mehrheit der „Vermittelten“ nach dem Weihnachtsgeschäft wieder zu entlassen, weitet sich der Skandal anscheindend aus. Das Erwerbslosen Forum Deutschland (ELO) berichtet nun von „schlimmsten Formen des Abzockens“ und unhaltbaren Zuständen für die Beschäftigen.

Zwei Wochen sollen vermittelte Hartz IV Bezieher im Lager und im Versand ohne Lohn arbeiten, um dann eine minder-bezahlte und zeitlich begrenzte Tätigkeit bei Amazon anzunehmen. Nach Angaben des Sprechers der Regionaldirektion NRW der Arbeitsagentur, Werner Marquis, sparte das Unternehmen im letzten Jahr 2010 „durch die Regelung etwa 950.000 Euro“. Nach Protesten und Berichten in regionalen und überregionalen Zeitungen stoppte die Arbeitsagentur Werne die Zuweisungen von Aushilfskräften für die Vorweihnachtszeit. Im Grundsatz wolle man aber die Zusammenarbeit mit Amazon nicht stoppen, wie eine Behördensprecherin mitteilte. Die nun neuerlich erhobenen Vorwürfe des Erwerbslosen Forums Deutschland könnten die Arge Werne und den Internetdienstleister Amazon in schwere Bedrängnis führen. Die Initiative wirft Amazon beispielsweise vor, dass die Saisonkräfte bereits im letzten Jahr ein Zweiwöchiges „Praktikum“ absolvieren mussten. Die gleichen Menschen mussten – obwohl sie eigentlich schon ein Praktikum unternahmen – auch in diesem Jahr erneut zwei Wochen ohne Lohn arbeiten. Die Sinnhaftigkeit eines Praktikums, zumal es sich nicht um komplexe Tätigkeiten handelt – ist daher äußerst fraglich. Hinzukommt, dass derzeit Beschäftigte nach Angaben des Erwerbslosen Forums Deutschlands die Arbeitsbedingungen vor Ort mit denen eines „Arbeitslagers“ vergleichen.

Hans-Peter Klein (Name geändert) war bereits im letzten Jahr bei Amazon Werne zwischen dem 15. November und 31. Dezember als Mitarbeiter im Versand tätig. Eine Entlohnung hat Klein allerdings nur für den Dezember erhalten, weil er ja im November das ominöse Praktikum unternehmen musste. Im Sommer diesen Jahres bewarb sich Hans-Peter Klein erneut. Eine Stelle bei Amazon bekam er jedoch nur unter der Voraussetzung, erneut zwei Wochen umsonst zu arbeiten, obwohl ihm die Arbeitsabläufe vom letzten Mal sehr gut in Erinnerung waren. Dieses Mal hatte er sich selbstständig auf die Stelle beworben und dennoch musste Klein das Praktikum machen. Damit er während der zwei Wochen das Arbeitslosengeld weiter bekommt, hatte Amazon laut ELO die „Maßnahme“ im Nachhinein beim Jobcenter „absegnen lassen“.

Martin Behrsing von der Erwerbsloseninitiative bezeichnet eine solche Vorgehensweise als „systematisches Abgreifen von Fördermitteln“. Damit werden „den Sozialversicherungen hohe Beiträge vorenthalten und den Mitarbeitern der Lohn“ so Behrsing. Amazon ginge es nicht um die Einarbeitung von Mitarbeitern, sondern ausschließlich um Gewinnmaximierung auf Kosten der Allgemeinheit und der Mitarbeiter, meint die Initiative.

Amazon hingegen befindet eine solche Praxis als „Training zur Wiedereingliederung“. So sagte eine Sprecherin des Konzerns: „Bewerber, die über die Arbeitslosenvermittlung zu uns kommen, erhalten für eine kurze Trainingszeit weiterhin ihre Bezüge von der Agentur für Arbeit, da das Training die Wiedereingliederungsaussichten in den Arbeitsmarkt verbessert.“

Überkapazitäten für kritische Phasen
Eine weitere „Sauerei“ ist das Schaffen von Überkapazitäten. So sagte ein ebenfalls momentan Beschäftigter: „Derzeit wird im Lager Werne dermaßen viel Überkapazität aufgebaut, dass ich schon mehrfach einfach freigestellt wurde. Was nichts anderes heißt, als dass ich nach Hause gehen kann oder gar nicht erst kommen braucht. Es gibt für diese Massen an Versandmitarbeitern – so die einheitliche Berufsbezeichnung – schlicht nicht genügend Arbeit. Das hält diese Firma aber nicht davon ab, unablässig weitere Bewerbungsrunden zu veranstalten.“ Nach Ansicht des Betroffenen sei es sehr unwahrscheinlich, dass „auch nur ein Bruchteil“ der Menschen übernommen wird. Das Amazon-Werk in Werne hätte noch nicht einmal jetzt zur frühen Vorweihnachtszeit genug Auslastung, um alle Angestellten ausreichend zu beschäftigen. Wahrscheinlich, so die Vermutung des Beschäftigten, gehe es dem Unternehmen darum, für die kritischen Tage „genug Reservepersonal“ zu haben.

Angst unter den Angestellten
Laut Recherchen des ARD Magazins „Report Mainz“ haben viele Mitarbeiter bei Amazon regelrecht Angst. Angestellte der Standorte Leipzig und Bad Hersfeld hatten den Journalisten berichtet, „dass sie teilweise über mehrere Jahre immer wieder befristete Arbeitsverträge bekommen hätten und aus Furcht, nach dem Auslaufen des Vertrags nicht übernommen zu werden, trotz Krankheit zur Arbeit erschienen.“ Laut des Magazins werden bei Vertragsverlängerungen über 12 Monate der Stundenlohn von 9,65 auf 11 Euro erhöht. Selbst die Vorarbeiter (bei Amazon „Co-Workers“) arbeiten in den meisten Fällen nur mit Zeitverträgen und geben den Druck an die Untergebenen weiter.

Totale Mitarbeiter-Kontrolle?
Einige Angestellte berichteten gegenüber der Initiative, dass die Mitnahme von persönlichen Dingen am Arbeitsplatz verboten ist. Lediglich eine Flasche Wasser darf mitgebracht werden. Armbanduhren, Geldbörse, Butterbrot oder Autoschlüssel müssen in einem Raum abgelegt werden. Einen abschließbaren Spind gibt es nicht. Sechs Stunden lang darf der Arbeitsplatz nicht verlassen werden. Muss jemand auf die Toilette, muss dies erst erfragt und entsprechend genehmigt werden.
„Überhaupt würde darauf geachtet, dass ständig Höchstleistung gebracht würde und man wird ständig überwacht“, so Willy Schmitz*. Wer sich nicht genau an die Vorgaben von Amazon hält, riskiert Negativpunkte, die dann für jeden sichtbar an einer an der Kleidung zu befestigten Identitätskarte verzeichnet werden. Raucht ein Angestellter während der Arbeitszeit, so wird dieser sofort entlassen.

Wachschutz darf fristlose kündigen
Für den Objektschutz und für die „Sicherheit“ des Unternehmens in Werne ist die Wachschutzgruppe „Kötter Services“ zuständig. Die Mitarbeiter des Security-Unternehmens arbeiten selbst teilweise nach ELO-Angaben unter dem Hartz IV Niveau. Dennoch können die Wachleute jederzeit mündlich fristlose Kündigungen gegen Amazon-Angestellte aussprechen, ohne dass der Betroffene Einspruch erheben könnte. Die Wachschutz-Leute sollen dann im Anschluss für ein sofortiges Hausverbot sorgen. Ob die Kündigung dann schriftlich von Amazon bestätigt wird, ließ sich von der Redaktion nicht ermitteln. „Laut Arbeitsvertrag kann Amazon während der ersten drei Monate den Vertrag mit einer Frist von einem Tag kündigen. Nach Ablauf der ersten drei Monate beginnt dann erst die sechsmonatige Probezeit. Das heißt nichts anderes, dass der Internetgigant neun Monate Mitarbeiter unter erleichterten Bedingungen loswerden kann, ohne dass es einer Angabe von Gründen bedarf.“, wie Martin Behrsing berichtet.
Das Erwerbslosen Forum zeigte sich aufgrund der berichteten Zustände bestürzt. So sagte deren Sprecher Behrsing: „Wenn ehemalige Mitarbeiter die Arbeitsbedingen mit denen eines Arbeitslagers vergleichen, kann ich das zum Teil nachvollziehen. Staatliche Förderung für Arbeitsplätze hat Verantwortung für menschenwürdige Arbeitsplätze und die hat unserer Ansicht bei Amazon versagt. Der Internetversandhandel wirbt damit, dass Ziel sei, das kundenfreundlichste Unternehmen der Welt zu sein. Ich glaube, dass informierte Kunden entscheiden werden, wo sie was kaufen wollen“. Von Amazon gibt es zu den Vorwürfen bislang keine Stellungnahme. (sb)

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