Wirtschaftskrise: Warum die LINKE nicht profitiert

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Wir Mitläufer – oder warum die politische Linke nicht von der Wirtschaftskrise profitiert
von Dr. phil. Egbert Scheunemann

Die FDP, also jene Partei, die für den Neoliberalismus steht wie keine andere, hat bei den vergangenen Wahlen zum EU-Parlament und zu den
Landtagen im Saarland, in Sachsen und Thüringen hinzugewonnen wie keine zweite. Und für die kommende Bundestagswahl wird die FDP bei 14-15 Prozent gehandelt – während die Linke bei ca. 10 Prozent herumdümpelt. Warum das so ist, warum die Linke nicht von der Wirtschaftskrise
profitiert (hat), versuche ich in meinem Artikel "Wir Mitläufer…" zu analysieren.

Horst Köhler, bis zum Ausbruch der jüngsten Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise einer der Obereinpeitscher des Neoliberalismus, wurde als
Bundespräsident wie selbstverständlich wiedergewählt. Die FDP, also jene Partei, die wie keine andere schon immer für möglichst freie Märkte und einen möglichst auf seine Grundfunktion der Eigentumssicherung reduzierten Staat getrommelt hat, war die große Gewinnerin der Wahlen zum EU Parlament– und sämtliche ehemaligen, also sozialdemokratischen, wie halbwegs ihren Namen noch verdienenden Linksparteien haben ein überwiegend katastrophales Wahlergebnis erreicht, von schüchternen Ausnahmen wie in Griechenland oder Deutschland abgesehen. Die nationale bis extreme politische Rechte triumphierte hingegen fast in ganz Europa. Dass Letzteres in Deutschland nicht der Fall war, ist womöglich nur dem Umstand zuzuschreiben, dass selbst hiesige rechte Kretins inzwischen begriffen haben, dass Deutschland der wirtschaftliche und machtpolitische Profiteur der europäischen Einigung ist.

Nun folgen EU-Wahlen bis zu einem gewissen Grad ihrer eigenen Logik. Rechten Kräften bieten sie natürlich wie keine andere Wahl Gelegenheit,
Flagge zu zeigen – die, versteht sich, nationale. Und der politische Spruch „Geht’s der Wirtschaft schlecht, wählt der Wähler rechts“ ist eben
keine platte Floskel, sondern historisch-empirisch ziemlich knüppelhart belegte Evidenz.

Dass die Besonderheiten der EU-Wahlen nicht alles erklären, zeigt sich aber zum Beispiel daran, dass die FDP auch auf nationalstaatlicher Ebene
für ihre radikal neoliberale Politik eher belohnt als abgestraft wird. So konnte man auf dem medialen Höhepunkt der Finanzmarktkrise schon vor
einem halben Jahr lesen: „Unter den Parteien gibt es in der Krise einen Gewinner: Die FDP liegt in der Sonntagsfrage bei 17 Prozent.“1 Und auch
bei den aktuellen Umfragen Anfang September 2009 liegt die FDP noch immer bei 14 Prozent – während die Linke bei 10 Prozent vor sich hin
dümpelt, wenige Wochen vor der Bundestagswahl. Dass die FDP auch bei den jüngsten Landtagswahlen im Saarland, in Sachsen und Thüringen so viel dazu gewann, wie keine andere Partei, passt dann nur noch ins Bild.

Zu erklären ist auch, warum angesichts der schlimmsten Krise des Kapitalismus seit den 1930er Jahren soziale Ruhe herrscht in einem Ausmaß,
dass soziale Unruhen hier und da schon fast verzweifelt dahergewünscht und herbeigeschrieben worden sind mangels faktisch vorhandenen sozialen Protests. Selbst in Frankreich oder Italien, Ländern, in denen üblicherweise Hunderttausende schon bei weit geringerem Anlass auf die Straße gehen, herrscht beklemmende Apathie. Warum ist das so? Ich sehe drei Ursachen für diese Entwicklung:

Zum Ersten hat die neoliberale Hegemonie über das letzte viertel Jahrhundert allem Anschein nach eine allgemeine Wirkungsbreite und Wirkungstiefe erreicht, deren Dimensionen noch nicht recht begriffen worden sind. Alle, mit wenigen Ausnahmen, sind mitgelaufen: Wirtschaftswissenschaftler, Politiker fast aller Parteien, Kapitalvertreter, Redakteure, Journalisten, Leitartikler, Talkshow-Moderatoren, Arbeitnehmer aus der New Economy und aus dem (nicht nur) oberen Einkommensdrittel – und selbst jene ‚kleinen Leute’, die dachten, sie müssten nur genügend viele T-Online-Aktien laufen, um endlich ohne Arbeit und nur von Dividenden und Zinsen leben zu können wie ‚die da oben’ schon immer. Kein Bäcker, kein Metzger, keine Supermarktangestellte, die ich über die – neoliberal durchseuchten – Jahre hinweg nicht habe sagen hören, dass sie aufgrund der Globalisierung und der Verschärfung der internationalen Konkurrenz nun halt heftiger und länger ranklotzen müssten bei geringerem Lohn. Da könne man nichts machen. Selbst aus Gewerkschaftermund klang mir solch Reden eher oft als
selten ans Ohr!

Was hätten diese Heerscharen von Mitläufern – ich würde sie auf mindestens 80 Prozent der Wahlbevölkerung schätzen – also machen sollen nach dem großen Kladderadatsch? Sich selbst bzw. die eigenen Vertreter – bislang Brüder und Schwestern im Geiste – abwählen? Gegen sich selbst protestieren? Den eigenen Lehrstuhl, Chefposten oder Redakteurssessel aufgeben? Öffentlich bekunden, dass man ein Dummkopf oder zumindest ein jämmerlicher Mitläufer war? Jene (wenigen) Linken wählen, die einem, wenn man ihnen denn überhaupt zuhörte, schon immer klar gemacht hatten, dass man ein Dummkopf und jämmerlicher Mitläufer war? Alles – nur nicht diese narzisstische Kränkung! So erklärt sich übrigens nebenbei warum einem als Linken, der den neoliberalen Weg in den Abgrund schon frühzeitig vorausgesagt und jenen, die ihn beschritten, den Spiegel vorgehalten hat, eher Hass und Ablehnung entgegenschlägt als Dankbarkeit, Lob oder gar die Beförderung auf einflussreiche politische, wissenschaftliche oder mediale Beraterposten.

Zum Zweiten ist selbst noch jene Linke, die gegen den Neoliberalismus opponierte, in erheblichem Maße seinen Lügen auf den Leim gegangen –
also wider Willen oder auch nur mehr oder minder bewusstlos mitgelaufen. Ich rede hier von jenem pseudolinken Publikations-, Tagungs- und Veranstaltungs- Jetset (aus Gründen der Pietät verzichte ich hier darauf, Namen zu nennen), in dessen Verlautbarungen man über lange Jahre außer globalisierungstheoretischer Imponierprosa kaum einen klaren Gedanken fand. Auch aus dem Munde dieser Kapitalismus- und Krisentheoretiker hörte ich nur allzu oft, dass man nichts machen könne, dass jede keynesianische, nationalstaatliche Wirtschaftspolitik Schnee von gestern, speziell aus den 1970er Jahren, sei, völlig unwirksam, weil das Kapital, hochflexibel vernetzt auf den internationalen Finanzmärkten, einfach flüchte in Billiglohnländer etc. pp. usw. usf. Man wurde ausgelacht oder wie ein Irrer behandelt auf entsprechenden Tagungen (oder erst gar nicht auf sie eingeladen), wenn man schüchtern daran erinnerte, dass die Wirtschafts- und Sozialdaten selbst innerhalb des völlig liberalisierten EU-Binnenmarktes in den verschiedenen Ländern aufgrund langfristig hochgradig unterschiedlicher nationalstaatlicher Politik hochgradig differieren, oder wenn man fragte, warum nicht alle schwedischen oder dänischen Unternehmen wie die Irren nach Bulgarien oder Portugal flüchten, da dort die Staats-, Sozial- und Steuerquoten doch dramatisch niedriger liegen? Oder warum die vermeintlichen
‚Global Player’, siehe paradigmatisch Daimler Benz, sich seit geraumer Zeit nahezu panisch aus ihren internationalen Engagements zurückziehen
bis hin, siehe General Motors im Falle von Saab, zu Angeboten, ihre ‚Töchter’, an denen sie sich völlig verhoben haben, zu verschenken? Oder
warum die auch bisher nicht kubische Welt realwirtschaftlich globaler wird allein deswegen, weil inzwischen täglich zigmal mehr fiktives Finanzkapital zwischen den Weltfinanzmärkten hin und her transferiert wird als noch vor zwanzig Jahren?

Warum also eine nicht keynesianistische, zumindest verbal radikale Linke wählen (oder ihr auch nur zuhören), die behauptet, man könne nationalstaatlich eigentlich gar nichts mehr machen – die aber jedes vernünftige Argument verweigert auf die Frage, wer denn auf globaler Ebene was tun solle, damit die große antikapitalistische Weltrevolution ausbreche?

Zum Dritten schließlich ist jener politischen Linken, die sich eine linkskeynesianische, sozial und ökologisch orientierte Nachfragepolitik ins Programm geschrieben hat, schlichtweg die Existenzberechtigung abhandengekommen in dem Moment, als plötzlich alle zu Keynesianern mutierten – wenn auch klammheimlich und quasi über Nacht. Die keynesianische Linke würde zwar alles ein bisschen radikaler machen, etwas mehr oben drauflegen – aber die Reallöhne und die Renten (und in erbärmlichem Maße sogar das ALG-II) steigen auch so, bestimmte Banken wurden auch ohne ihre Mithilfe verstaatlicht und das Kurzarbeitergeld wurde auch ohne ihren Regierungseintritt verlängert. Weil inzwischen alle Keynesianer sind, gibt es für viele Wählerinnen und Wähler allem Anschein nach keinen Grund (mehr), eine Linke zu wählen, die sich auf keynesianische Konzepte – beschränkt.

Weil sich eine stramme, ehemals Moskau oder Mao hörige politische Linke mit der (verdienten) Implosion des realexistierenden Sozialismus ins (verdiente) Nirwana befördert hat, bleibt für eine politische Linke, für die der Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte ist oder sein kann und die sich weiter am Leitbild eines demokratischen, humanen, ökologisch aufgeklärten Sozialismus orientiert, nichts anderes übrig, als dieses Leitbild programmatisch und realpolitisch zu konkretisieren – und die Horden von konservativen, sozialdemokratischen und grünen keynesianischen Konvertiten, die frisch gewendet ihrem vom (ebenso keynesianisch geläuterten) Wähler bestätigten Handwerk nachgehen, linkskeynesianisch vor sich herzutreiben wie die Sau durchs Dorf (ohne freilich selbst eine zu werden). Jede reale Lohn-, Renten- oder ALG-II-Erhöhung, jeder Mindestlohn in welcher Branche auch immer, jeder installierte Sonnenkollektor, jede verhinderte Abschiebung eines politisch Verfolgten ist ein Erfolg. Wer eine Politik der kleinen Schritte mit großer Geste von sich weist, um der antikapitalistischen sozialistischen Weltrevolution zu harren, die unter den gegebenen wirtschaftlichen und Herrschaftsbedingungen so wahrscheinlich ist wie die Änderung der Rotationsrichtung der Erde, ist kein Linker, sondern ein Idiot. Der demokratische Sozialismus wird Schritt um Schritt kommen, oder er wird nicht kommen. Was das zu erstrebende programmatische Leitbild angeht, wurden – das zumindest können die Linken bekanntlich – schon ganze Bibliotheken vollgeschrieben. Ich erlaube mir also, abschließend nur auf schon Geschriebenes zu verweisen: das Modell einer Ökologisch-Humanen Wirtschaftsdemokratie von Ota Šik (und anderen), das in seinem wissenschaftlich fundierten, ebenso umfassenden wie detaillierten Ansatz seinesgleichen sucht.

Ich empfehle es dringend als programmatisches Leitbild (also nicht als sklavisch eins zu eins umzusetzendes, ehernes bis sakrosanktes theoretisches Modellgefängnis bis Wolkenkuckucksheim) einer demokratisch-sozialistischen, humanen, ökologisch aufgeklärten Linken, die sich auf linkskeynesianische Politik nicht beschränken kann – und nicht beschränken darf bei Strafe (siehe: Realität) ihrer politischen Marginalisierung.

Schlussbemerkung: Fast keine Analyse der Ursachen der Entstehung der neoliberalen Hegemonie thematisiert die Ursache aller Ursachen dieser
Hegemonie – die Herrschaft des neoklassisch-neoliberalen Modells des vollkommenen Marktes in den Lehrbüchern der Wirtschaftswissenschaften,
nach denen Millionen von zukünftigen Entscheidungsträgern in Ökonomie, Politik und Medien seit langen Jahrzehnten ausgebildet wurden und noch immer werden. Solange diese Hegemonie in den Lehrbüchern nicht gebrochen ist, wird der Kapitalismus grundsätzlich bleiben, wie er ist, und von immer größerer Krise zu immer noch größerer Krise stolpern. Die Herren Lehrstuhlinhaber zur Rechenschaft zu ziehen und sie zu fragen, warum denn in entfesselten Märkten real immer Monopolisierung und Zentralisierung (der Produktion, des Reichtums etc.) resultiert, wo die Theorie des vollkommenen Marktes ein allgemeines Gleichgewicht (ohne Krisen, Arbeitslosigkeit oder Inflation) und Wohlstandswachstum für alle voraussagt– das ist das politisch-strategische Gebot der Zeit. Dass in dieser Hinsicht viele (nicht nur) linke politisch-strategische Theoretiker und auch Praktiker werden umdenken müssen, ist evident. (Ein Leserartikel von Egbert Scheunemann, 04.09.2009, auch als PDF)

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