Hartz IV Protestler freigesprochen

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Am 12.07.06 fand vor dem Amtsgericht Tiergarten in Berlin ein Prozess gegen Michael Kronawitter statt, der zusammen mit der sozial/politischen Gruppe den "Überflüssigen" im Herbst 2004 die Berliner AWO-Zentrale besetzt hatte. Das Verfahren wurde auf Staatskosten eingestellt. Während dem Prozess wurde eine miese Machenschaft des LKA Berlins aufgedeckt. Es besteht der Anfangsverdacht, dass Mitarbeiter/innen des LKA Urkundenfälschung begangen haben, um die Anklage gegen die Überflüssigen zu ermöglichen.

Wie in bereits vorangegangenen Prozessen gegen AWO-Besetzer/innen kam es diesmal nicht zu einer Verurteilung der Überflüssigen. Diese skandalisierten mit ihrer heute angeklagten Aktion von 2004, dass die Berliner Arbeiterwohlfahrt (AWO) sich an der Umsetzung von Hartz IV beteiligt, indem sie 1-Euro-Jobber beschäftigt. Aufgrund dieser Tatsache kam die AWO und ihr Berliner Chef, Hans Nisble, während des Prozessverlaufs in die Kritik. Das Verfahren war bereits für Juni 2006 angesetzt, musste aber wegen einer angeblichen Krankheit Nisbles kurzfristig abgesagt werden.

Der Prozess begann in einem kleinen Raum, der nur 16 Sitzplätze hatte. Die Richterin war so zuvorkommend, trotzdem alle Interessierten in den Gerichtssaal zu lassen. So konnte die Öffentlichkeit den Prozess zumindest im Stehen bzw. auf dem Boden sitzend verfolgen. Zunächst erklärte der angeklagte Überflüssige, der sich einen roten Trainingsanzug angezogen und eine weiße Maske auf seinen Kopf gesetzt hatte, über die Überflüssigen auf. Ihre Aktionen hatten bei den meisten Anwesenden im Publikum so viel Sympathie, dass für sie klar wurde, dass die falschen angeklagt waren.

Wer sind die eigentlich Schuldigen?
Dann wurde von dem Überflüssigen sinngemäß ausgeführt, dass es in diesem Verfahren um ein Verbrechen geht, aber nicht um das des Hausfriedensbruch, wie der Staatsanwalt meinte, sondern – schlimmer – um Sozialfriedensbruch: Es geht um einen sozialen Krieg gegen Menschen ohne Erwerbseinkommen. Der soziale Frieden war federführend von der rot-grünen Koalition im Bund gebrochen worden. Sozusagen Sozialfriedensbruch auf höchstem Niveau. Heute werden mehr als sieben Millionen Menschen gequält, gedemütigt; man zerstört ihre Kreativität. Man räumt sie aus ihren Wohnungen. Manche sind so verzweifelt, dass sie sich selbst zerstören. In München tötete kürzlich eine Frau ihr vierjähriges Kind und dann sich selbst, bevor die Wohnung von Vollstreckern der Agenda 2010 zwangsgeräumt werden konnte. Das Publikum nickte während diesen Ausführungen zustimmend.

Dann ging es um den Vollstrecker der Hartz IV-Gesetze, Hans Nisble mit Accent aigu, seines Zeichens SPD-Mitglied. Nach einem Ausflug in die mörderische Geschichte der SPD Ende der 1920er Jahre, konzentrierten sich die Kritikpunkte an der heutigen Politik von beispielsweise Innensenator Körting und Peter Hartz (alle: SPD). Letzterer steht ja angeblich schon mit einem Bein im Gefängnis: Betrug, Veruntreuung und solche Dinge, die bei Menschen mit Millionärsgehältern angeblich nicht selten sind. Bei VW Millionen kassiert, den Erwerbslosen in Deutschland ein Armutsprogramm aufgelegt, und dann von den Spesen in Brasilien das Puff-Wesen gefördert. Dafür steht Peter Hartz.

Aber zurück zu Hans Nisble bzw. der AWO. Nisble, so führte der Angeklagte weiter aus, befürwortet die Umsetzung der Agenda 2010. Er sagt "ja" zu 1-Euro-Jobs. Auch die Arbeiterwohlfahrt lässt also hochqualifizierte Menschen sinnlose Tätigkeiten durchführen, wie z.B. das Basteln von Styropormäusen, die mit Sonnenblumenkernen beklebt werden – für den Wohltätigkeitsbasar. Und noch schlimmer: Sie zwingt in Pflegeheimen nicht qualifizierte 1-Euro-Jobber zu pflegerischen und sozialen Tätigkeiten. Nicht nur, dass dadurch in diesen Berufen ausgebildete Menschen aus gesicherten Arbeitsverhältnissen verdrängt werden; es ist auch eine Zumutung für Menschen, die auf kompetente Hilfe angewiesen sind, die der Arbeiterwohlfahrt praktisch hilflos ausgeliefert sind. Menschen in Altenheimen müssen hinnehmen, dass sie von nicht ausgebildeten 1-Euro-Jobbern versorgt werden. Sie müssen hinnehmen, dass ihnen Menschen professionell beistehen sollen, die zu dieser Arbeit gezwungen werden. Für jeden ausgebeuteten 1-Euro-Jobber erhält die AWO ca. 300 Euro. Die Umsetzung des Hartz IV-Programms ist das eigentliche Verbrechen, das auf die Anklagebank gehört. Verbrechen im Auftrag und bezahlt von der Regierung. Und gegen all dies protestierten einige Überflüssige an diesem lauen Herbsttag im Oktober 2004.

Zeugenvernehmung
Die Zeugenvernehmung ergab, dass die Überflüssigen – wie es ihre Art ist – plötzlich und unerwartet auftauchten und das gesamte Gebäude in Beschlag nahmen. Nisbles Personalchef sei angerufen worden und beide zusammen seien zur AWO gefahren. Im Betriebratsbüro, das beide ohne Erlaubnis des Betriebsrates betreten hatten, diskutierten sie mit den Überflüssigen. Letzte verlangten von Nisble, dass er eine vorbereitete Erklärung unterzeichnen sollte, die sich gegen 1-Euro-Jobs bei der AWO in Berlin und bundesweit aussprach. Verwaltungsangestellte konnten sich an keine Gesichter mehr erinnern, es seien ohnehin "maskierte Männer" gewesen. Nur der Personalchef, der heute stellvertretender AWO-Landesvorsitzender ist, und Nisble wollen den Angeklagten erkannt und mit ihm diskutiert haben. Hans Nisble hatte damals nicht lange nachgedacht, bereits auf dem Weg zur AWO hatte er die Polizei verständigt. Er hat die Überflüssigen aus dem Weg räumen lassen. Die Überflüssigen, so sagte er aus, seien ihm bekannt gewesen, denn sie "machen eine sorgfältige Öffentlichkeitsarbeit". Die abschließenden Fragen des Überflüssigen, ob es stimme, dass Nisble wegen seines Strafantrags gegen Überflüssige von Überflüssigen morgens geweckt wurde und zu welcher Uhrzeit; und die Frage, ob sich Herr Nisble für schuldig erkläre, 1-Euro-Jobs eingeführt zu haben und damit den Straftatbestand des Sozialfriedensbruchs begangen zu haben, ließ das Gericht nicht zu.

LKA fälschte Strafanzeigen
Ein Skandal kam ans Tageslicht bei der Prüfung der Strafanträge, die in der Regel vom Hausherrn gestellt werden müssen und die schließlich zur Anklage geführt haben. Der AWO-Personalchef sagte eindeutig aus, dass er nur einen Strafantrag auf einem DIN A4-Papier unterschrieben habe. Aus einem anderen Gerichtsverfahren ist jedoch ein weiterer von ihm unterzeichneter Strafantrag bekannt. Eine genaue Prüfung ergab, dass das LKA die Verfahrensnummer des einen Strafantrags abgedeckt und fotokopiert hatte. So war der zweite, gefälschte entstanden, der zu der Anklage des aktuellen Verfahrens geführt hatte. Das LKA hat also offenbar dafür gesorgt, dass die Überflüssigen mit mehreren Gerichtsverfahren überhäuft werden konnten. Deswegen wurde noch während des Verfahrens Strafanzeige gegen das LKA Berlin wegen Urkundenfälschung gestellt. Das Ganze erhält weitere Brisanz, weil – wie kürzlich bekannt wurde – auch das BKA gegen die Überflüssigen ermittelt.

Freispruch zweiter Klasse für Überflüssige, Nisble wegen Sozialfriedensbruch verurteilt
Weil kein ordnungsgemäßer Strafantrag vorlag, konnte auch nicht verurteilt werden. Das Verfahren wurde auf Kosten der Landeskasse eingestellt. Das war ein Freispruch zweiter Klasse. Der berühmt-berüchtigte Staatsanwalt der politischen Abteilung Raupach hätte gerne eine Verurteilung gesehen. Aber seinem Plädoyer schloss sich die Richterin in ihrem Urteil nicht an.

Bevor die Richterin selbst dieses Urteil sprechen konnte, wurde ein Urteil gegen die AWO verkündet. Etwas überrascht nahm sie diese letzten Worte des Überflüssigen zur Kenntnis. Dieser forderte das Publikum auf, sich zu erheben. Nachdem die Öffentlichkeit dieser Bitte nachgekommen war und die Richterin dies kommentarlos duldete, wurde im Namen der Überflüssigen Herr Hans Nisble für schuldig befunden: "Er hat sich mit der Einführung von 1-Euro-Job wider besseres Wissen an einem kriminellen Programm beteiligt. Sein Unternehmen hat sich auf diese Weise unsittlich bereichert. Dies erfüllt den Straftatbestand des Sozialfriedensbruchs." Zum Strafmaß wurde ergänzend ausgeführt: "Die Überflüssigen glauben an die Veränderbarkeit. Sowohl die Verhältnisse als auch Menschen sind veränderbar. Deshalb richtet sich die Strafe nach den Maßstäben der Resozialisierung: Herr Nisble muss zwei Wochen lang täglich acht Stunden bei einem Jobcenter seiner Wahl anstehen. Im kommenden Herbst muss er zwei Tage lang jeweils acht Stunden Laubsammeln mit Peter Hartz – vorausgesetzt Peter Hartz ist auf Bewährung draussen."

Die teils weit angereiste Öffentlichkeit kam auf ihre Kosten. Der Prozess wurde inhaltlich interessant und unterhaltsam geführt. Die gute und richtige Motivation der Überflüssigen zur Besetzung der AWO kam erneut auf den Tisch. Kritik an der AWO ist heute genauso berechtigt wie im Oktober 2004. Nur über einen kleinen Dämpfer gilt es noch zu berichten. Die Richterin hat verhindert, dass ein weiteres Bonbon in das Verfahren eingeführt wurde. Der Beweisantrag des Rechtsanwaltes, einen 5-minütigen Film über die Aktion zu betrachten, wurde von ihr bedauerlicherweise nicht angenommen. Vermutlich war es ihr an diesem heißen Sommertag im Gerichtssaal zu stickig und sie wollte ins Freibad. Als Mensch mit einem Arbeitsplatz kann sie sich die teuren Schwimmbadgebühren noch leisten.

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